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Geschichten aus Abu Ghurayb
03.04.2004


Riverbend

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Genau um 17:00 Uhr gestern Abend verkündete meine Mutter plötzlich, daß wir eine Freundin von ihr besuchen würden, die kürzlich eine kleine Operation hatte. Die Freundin lebt zwei Straßen weiter und in der irakischen Kultur ist es eine Verpflichtung, einen kranken Freund oder Verwandten zu besuchen. Ich versuchte mich mit einer ganzen Reihe von Entschuldigungen vor der gesellschaftlichen Pflicht zu drücken. Es war sinnlos - meine Mutter war unnachgiebig.

Wir verließen das Haus gegen 17:40 Uhr - ich trug eine Packung Schokolade - und kamen nicht einmal fünf Minuten später am Haus der Freundin an. Nach den anfänglichen Begrüßungen und Bekundungen des Mitleids und der Erleichterung gingen wir alle in s Wohnzimmer. Das Wohnzimmer war fast völlig dunkel, der Strom war weg und die Vorhänge waren aufgezogen, um die letzten Sonnenstrahlen hereinzulassen. "Der Strom soll um 18:00 wiederkommen..." sagte die Freundin meiner Mutter entschuldigend, "deshalb haben wir die Petroleumlampen nicht angezündet."

Gerade als wir uns setzten stand eine Person am anderen Ende des Wohnzimmers hastig auf. "Wo willst Du hin?" schrie die Freundin meiner Mutter, Umm Hassen, auf. Dann drehte sie sich zu uns um und stellte uns eilig vor. "Das ist M. - sie ist eine Freundin der Familie ... sie ist hier um Abu Hassen zu treffen..." Ich spähte angestrengt durch den dunkel werdenden Raum um die zierliche Gestalt besser zu erkennen, aber ich konnte sie nicht genauer sehen. Ich konnte kaum ihre Stimme hören, als sie sagte "Ich muß jetzt wirklich los... es wird dunkel..." Umm Hassen schüttelte ihren Kopf und erklärte entschlossen: "Nein, Du bleibst. Abu Hassen wird Dich später nach Hause fahren."

Die Gestalt setzte sich und eine unangenehme Stille folgte, als Umm Hassen das Wohnzimmer verließ, um Tee aus der Küche zu holen. Meine Mutter brach das Schweigen mit einer Frage. "Lebst Du in der Nähe?" fragte sie die Gestalt. "Nicht wirklich... ich lebe außerhalb Baghdads... am südlichen Rand, aber ich wohne momentan bei Verwandten ein paar Straßen entfernt." Ich hörte der Stimme genau zu und war mir sicher, daß das Mädchen jung war - höchstens 20 oder 25... vermutlich weniger.

Gerade, als Umm Hassen mit dem Teetablett in den Raum kam, erwachten die Lichter des Hauses flackernd wieder zu Leben und wir alle raunten ein Dankesgebet. Sowie sich meine Augen an die strahlenden Lichter gewöhnt hatten, drehte ich mich um, um einen genaueren Blick auf Umm Hassens Gast zu werfen. Ich hatte Recht gehabt - sie war jung. Sie konnte nicht mehr als 20 sein. Sie trug ein schwarzes Tuch, achtlos über dunkelbraunes Haar geworfen, das unter der Kopfbedeckung hervorlugte. Sie klammerte sich an eine schwarze Handtasche und als die Lichter angingen sank sie am anderen Ende des Raums in sich zusammen.

"Warum sitzt Du so weit weg?" schalt Umm Hassen sie liebevoll. "Komm her und setz Dich." Sie nickte in Richtung eines großen Sessels neben unserer Couch. Das Mädchen stand auf uns zum ersten Mal bemerkte ich, wie schlank sie war - der lange Rock und die Bluse hingen an ihrem Körper, als würden sie jemand anderem gehören. Sie setzte sich steif in den Sessel und schaffte es, noch kleiner und jünger auszusehen.

"Wie alt bist Du, M.?", fragte meine Mutter freundlich. "Neunzehn" war die Antwort. "Und studierst Du? Auf welche Universität gehst Du?" Das Mädchen wurde sehr rot, als sie erklärte, daß sie arabische Literatur studierte, aber ein Jahr pausierte, weil... "Weil sie von den Amerikanern gefangengenommen worden ist", beendete Umm Hassen den Satz wütend und schüttelte dabei den Kopf. "Sie ist hier, um Abu Hassen zu treffen, weil ihre Mutter und drei Brüder immer noch im Gefängnis sind."

Abu Hassen ist ein Anwalt, der seit dem Ende des Krieges sehr wenig Fälle übernommen hat. Er erklärte einmal, daß das derzeitige irakische Rechtssystem wie ein Dschungel ohne Regeln, aber mit hundert Löwen und tausenden von Hyänen sei. Niemand weiß, welche Gesetze gültig sind und welche nicht, nichts kann gegen korrupte Richter und Polizisten unternommen werden und es ist sinnlos, Kriminalfälle zu übernehmen, da man, sollte man gewinnen, von der Familie des Mörders/Diebs/Plünderers sicherlich ins Grab gebracht würde... oder der Kriminelle würde es selbst tun, nachdem er nach ein paar Wochen freigelassen werden würde.

Dieser Fall war eine Ausnahme. M. war die Tochter eines verstorbenen Freundes und sie war zu Abu Hassen gekommen, weil sie niemand anderes kannte, der bereit war, sich mit der Angelegenheit zu beschäftigen.

In einer kalten Nacht im November schliefen M., ihre Mutter und vier Brüder, als ihre Tür plötzlich am frühen Morgen eingetreten wurde. Was folgte, war Chaos und Verwirrung... schreien, rufen, fluchen, schubsen und ziehen folgten. Die Familie wurde im Wohnzimmer versammelt und die vier Söhne - einer von ihnen erst 15 - wurden mit Säcken über den Köpfen weggezerrt. Die Mutter und die Tochter wurden befragt - wer war der Mann auf dem Bild an der Wand? Er war M.'s Vater, der vor sechs Jahren an einem Schlaganfall gestorben war. Ihr lügt, wurde ihnen gesagt - war er nicht Teil einer geheimen Untergrundzelle des Widerstands? M.'s Mutter war mittlerweile hysterisch - er war ihr toter Ehemann und warum brachten sie ihre Söhne weg? Was hatten sie getan? Sie unterstützten den Widerstand, kam die Antwort von dem Übersetzer.

"Wie haben sie den Widerstand unterstützt?", wollte ihre Mutter wissen. "Sie geben den Terroristen große Geldbeträge", erklärte der Übersetzer. Die Soldaten hatten einen anonymen Hinweis erhalten, daß M.'s Familie große Summen gab, um Angriffe auf die Soldaten zu finanzieren.

Es war sinnlos, zu versuchen zu erklären, daß die Familie keinerlei "Geldsummen" besaß - seitdem zwei ihrer Söhne ihre Arbeit in einer Fabrik, die nach dem Krieg geschlossen hatte, verloren hatten, hatte die Familie von dem bißchen Geld gelebt, das ein "Kushuk", ein kleiner Laden, der Zigaretten, Kekse und Süßigkeiten an die Leute in der Nachbarschaft verkaufte, abwarf. Sie verdienten kaum genug Geld für Nahrungsmittel! Nichts galt. Die Mutter und die Tochter wurden ebenfalls weggebracht, mit Säcken über dem Kopf.

Umm Hassen hatte die Geschichte bis zu diesem Punkt erzählt, M. nickte nur zustimmend mit dem Kopf und hörte angestrengt zu, als wäre es die Geschichte von jemand anders. Von hier an erzählte sie weiter... M. und ihre Mutter wurden zum Flughafen zur Befragung gebracht. M. erinnert sich daran, in einem Raum zu sein, mit einem Sack über dem Kopf und hellen Lichtern über ihr. Sie behauptete, die Umrisse von Gestalten durch kleine Löcher in dem Sack gesehen zu haben. Man zwang sie, auf den Knien zu hocken, im Befragungsraum, während ihre Mutter getreten und zu Boden geprügelt wurde.

M.'s Hände zitterten, als sie die Teetasse, die sie von Umm Hassen bekommen hatte, hielt. Ich Gesicht war sehr blaß, als sie sagte: "Ich hörte meine Mutter sie anflehen, mich bitte gehen zu lassen und mich nicht zu verletzen... sie sagte ihnen, sie würde alles tun - wirklich alles - wenn sie mich nur gehen ließen." Nach einigen Stunden der Mißhandlung wurden Mutter und Tochter getrennt, jede in einen eigenen Raum zur Befragung. M. wurde über alles hinsichtlich ihres Familienlebens befragt - wer kam sie besuchen, wer war mit ihnen verwandt und wann und unter welchem Umständen war ihr Vater gestorben. Stunden später wurden Mutter und Tochter zu dem berüchtigten Gefängnis Abu Ghurayb gebracht - wo tausende von Kriminellen und Unschuldigen untergebracht sind.

In Abu Ghurayb wurden sie getrennt und M. vermutete, daß ihre Mutter zu einem anderen Gefängnis außerhalb Baghdads gebracht worden war. Einige schreckliche Monate später - nachdem sie mehrere Verprügelungen und die Vergewaltigung eines männlichen Gefangenen durch die Wächter erlebt hatte - wurde M. Mitte Januar plötzlich freigelassen und zum Haus ihres Onkels gebracht, wo sie ihren jüngsten Bruder fand, der sie dort erwartete. Ihr Onkel hatte es mit Hilfe einiger Anwälte und Kontakte geschafft, sie und ihren 15 Jahre alten Bruder aus zwei unterschiedlichen Gefängnissen herauszuholen. M. erfuhr außerdem, daß ihre Mutter immer noch in Abu Ghurayb war, aber sie waren sich bei ihren drei Brüdern nicht sicher.

M. und ihr Onkel erfuhren, daß ein bestimmter Nachbar ihre Familie fälschlich beschuldigt hatte. Der 20-jährige Sohn des Nachbars war noch immer wütend über einen Kampf, den er vor mehreren Jahren mit einem von M.'s Brüdern gehabt hatte. Er brauchte nur einen bestimmten Übersetzer ansprechen, der für die Soldaten arbeitete und ihm M.'s Adresse geben. So einfach war das.

Abu Hassem wurde von M. und ihrem Onkel angesprochen, weil er ein alter Freund der Familie und bereit war, die Arbeit kostenlos zu machen. Sie haben seitdem versucht, ihre Brüder und ihre Mutter heraus zu bekommen. Ich war wütend - warum sprachen sie nicht die Presse an? Warum sprachen sie nicht das Rote Kreuz an? Worauf warteten sie?! Sie schüttelte den Kopf traurig und sagte, daß sie das Rote Kreuz angesprochen *hatten*, aber sie waren nur ein Fall von tausenden und abertausenden - es würde ewig dauern, bis sie soweit waren. Und wegen der Presse - war ich verrückt? Wie sollte sie die Presse ansprechen und den Zorn der amerikanischen Behörden riskieren, während ihre Mutter und ihre Brüder noch immer gefangen waren? Es gab Gefangene, die bereits 15 Jahre Gefängnis wegen "Handlungen gegen die Koalition" bekommen hatten - das konnte sie nicht riskieren. Sie mußten einfach Geduld haben und viel beten.

Am Ende ihrer Geschichte weinte M. still und meine Mutter und Umm Hassen wischten sich schnell ihre Tränen weg. Ich konnte nur wiederholen "Es tut mir so leid... Es tut mir wirklich leid..." und viele weitere nutzlose Worte. Sie schüttelte ihren Kopf und winkte meine Worte der Anteilnahme weg. "Es ist ok - wirklich - ich bin eine der Glücklichen ... mich haben sie nur verprügelt."





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