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Ein Offizier im Gericht
31.08.2004


Uri Avnery
Übersetzung Ellen Rohlfs






Als ich aus dem wunderschönen Gerichtsgebäude herauskam, war ich deprimiert.

Ich hatte stundenlang den Verhandlungen über eine Reihe von Anträgen zugehört, bei denen es um die Trennungsmauer ging. Ich war besonderes an dem Mauerteil interessiert, der das Leben der Bewohner von a-Ram zu ruinieren droht. Ich erinnere daran, daß die geplante Mauer der vollen Länge nach auf der Jerusalem-Ramallah-Straße, die durch a-Ram führt, auf dem Mittelstreifen entlang verlaufen soll. Dieser soll durch eine 8 Meter hohe Betonmauer ersetzt werden, die den größten Teil der Stadtbewohner von ihren Arbeitsplätzen, Schulen, Krankenhäusern und sogar vom Friedhof trennen wird.

Bis jetzt war das Bauen dieses Mauerabschnittes durch eine einstweilige Verfügung des Obersten Gerichtshofs aufgehalten worden. Diese ist nun aufgehoben worden, und nächste Woche werden die Baukräne damit beginnen, die Betonplatten aufzurichten, die entlang der Straße schon bereitliegen. Sie werden die Welt auf der andern Seite ausschließen.

Im Laufe der Sitzung riefen die drei Richter - unter Vorsitz des Obersten Richters Aharon Barak - die Anwälte beider Seiten zum Richtertisch und baten darum, ihnen die Karte zu erklären. Die Anwälte, einschließlich einem Militäranwalt in Uniform, kamen nach vorne. Doch nicht allein. Mit ihnen kam eine Zivilist, der kein Anwalt war - ein kippahtragender Siedler, Danny Tirza, der Chef der Abteilung, die im Verteidigungsministerium für den Mauerbau zuständig ist.

Dieser Tirza wurde im vergangenen Monat bekannt, als der Oberste Gerichtshof beschloß, daß die Route der Mauer verändert werden müsse. Als er aus dem Gerichtssaal kam, ging er direkt auf die TV-Kameras zu und erklärte, daß von nun an der Oberste Gerichtshof die Verantwortung für jeden ermordeten Juden tragen würde. Diese unverschämte Bemerkung verursachte in der Öffentlichkeit einen Aufruhr, und Tirza wurde offiziell von seinen Vorgesetzten zurückgepfiffen.

Das hinderte ihn nicht, sich jetzt dem Richtertisch zu nähern, und den Richtern ausführlich die Notwendigkeit des sofortigen Mauerbaus darzulegen. Es war keinem in den Sinn gekommen, den Bürgermeister des Ortes a-Ram, Sirhan Salaimeh, der in der ersten Reihe saß, nach vorn zu bitten, um seinen Fall darzulegen. Ein Siedler - ja. Ein ortsansässiger Palästinenser - nein.

Was dann geschah, war noch beunruhigender. Auf Forderung der Regierungsanwälte wurde ein ranghoher Kommandeur der Grenzpolizei, übrigens ein Druse, darum gebeten, den Richtern zu erklären, warum eine Verzögerung des Mauerbaues die Ermordung von Juden zur Folge habe würde. Ein paar Tage zuvor war tatsächlich ein sich in der Moschee von a-Ram versteckender "Terrorist" entdeckt worden. (Gott möge mir meine verdrehten Gedanken vergeben, aber diese Geschichte kam mir vom ersten Augenblick an verdächtig vor. Diese Verhaftung, nur wenige Tage vor der Gerichtsverhandlung, kam zu einem den Sicherheitskräften einfach zu gut passenden Zeitpunkt).

Gewöhnlich sprechen nur Anwälte im Obersten Gerichtshof. Es ist sehr ungewöhnlich, daß es noch jemand anderem erlaubt ist, dort zu reden. Die lange Rede des Offiziers ohne die Möglichkeit einer Gegenrede ist noch ungewöhnlicher. Es zeigt, daß, selbst noch 57 Jahre nach der Gründung des Staates Israel, Armeeoffiziere einen besonderen Status vor dem Obersten Gerichtshof innehaben.

Die Botschaft des Offiziers war ganz einfach: eine Verzögerung des Mauerbaus kann Terrorakte erleichtern. Das heißt also, wenn das Gericht weitere Verzögerungen verursacht, wird er für die Konsequenzen verantwortlich sein. Indirekt, nur auf etwas raffiniertere Weise, wiederholte dieser Offizier die primitive Erpressung des Siedlers Tirza.

Das Endergebnis: Der Gerichtshof gab unter diesem Druck klein bei und die Verzögerungsorder wurde zurückgezogen. Ich war traurig darüber, aber nicht verwundert, muß ich leider sagen.

Es stimmt, der Oberste Gerichtshof ist in der israelischen Landschaft eine Oase. Sogar architektonisch. Während er von außen nicht besonders eindrucksvoll ist, ist er innen wunderbar. Anders als der pompöse monumentale Stil, in dem gewöhnlich die meisten Gerichtsgebäude der Welt gebaut sind, ist unser Oberster Gerichtshof in menschlichen Maßen, ein luftiges Gebäude mit viel freiem Raum und inneren Höfen, die an die Alhambra in Granada erinnern. Es gibt interessante Licht- und Schattenspiele. Rundherum befindet sich ein lieblicher Garten, der für alle zugänglich ist. Auch die Gerichtshallen sind angenehm und passend. Die Sicherheitskontrollen sind minimal und ungewöhnlich höflich.

Und was noch wichtiger ist, der Gerichtshof ist auch eine politische Oase. Zu einer Zeit, in der die Demokratie degeneriert, die Regierung sich zynisch und die Knesset unverantwortlich benimmt, ist der Oberste Gerichtshof die letzte Festung. Da Israel keine Verfassung hat, hat der Oberste Gerichtshof die Aufgabe übernommen, Gesetze zu blockieren, die den Grundwerten der israelischen Demokratie widersprechen. Nach öffentlichen Meinungsumfragen erfreut sich der Gerichtshof des höchsten Ansehens unter den öffentlichen Institutionen (während Politiker und Medien ganz unten zu finden sind).

Wenn das so ist, was ist dann dieses Mal geschehen?

Aharon Barak erklärte mir einmal sein Grundprinzip: der Gerichtshof hat keine eigene Armee. Er kann seine Entscheidungen nicht mit Gewalt durchsetzen. Er ist völlig vom Vertrauen und der Unterstützung der Öffentlichkeit abhängig. Darum kann er nicht viel weiter gehen als das, was die Öffentlichkeit verträgt.

Bei Sicherheitsproblemen ist die Situation noch heikler. Es stimmt, die Zeiten sind vorüber, als der Gerichtshof in Habachtstellung stand, wenn ein Armeeoffizier vor ihm erschien. Aber es ist noch immer möglich, den Gerichtshof unangemessen mit Sicherheitsargumenten zu beeindrucken. Aharon Barak ist Holocaustüberlebender: als Kind wurde er aus dem Warschauer Ghetto unter Kartoffelsäcken versteckt auf einer Karre herausgebracht. Deshalb ist seine Empfänglichkeit für Sicherheitsargumente äußerst hoch.

Vor diesem Hintergrund lohnt es sich, die "beratende Stellungnahme" des Internationalen Gerichtshofes in Den Haag mit der Entscheidung des Obersten Gerichthofs in Jerusalem zu vergleichen. Die Haager Richter entschieden - um es einfach auszudrücken - Israel habe das Recht, eine Mauer zu bauen, aber nur auf seinem eigenen Land, verknüpft mit der Grünen Linie von vor 1967. Es hat kein Recht, diese auf besetztem Land zu bauen, erst recht nicht, wenn es seine Absicht ist, die Siedlungen, die nach internationalem Recht selbst schon illegal sind, seinem Staatsgebiet einzuverleiben.

Der israelische Gerichtshof beging alle Arten von Verrenkungen und entschied, daß "übertriebenes" Leid der palästinensischen Bevölkerung vermieden werden müsse, aber er akzeptierte das Recht Israels, die Mauer auf palästinensischem Land zu bauen, wenn dies aus "Sicherheitsgründen" notwendig sei - besonders, um Siedlungen zu schützen. So hat das Gericht - indirekt - bestätigt, daß es die Siedlungen als legal ansieht.

Das schafft nun eine komplizierte Situation. Während der Anhörung hat Barak angeregt, daß beide Seiten - die Regierung und die palästinensischen Antragsteller - schriftliche Stellungnahmen zu der Entscheidung des internationalen Gerichtshofes unterbreiten. "Es ist unmöglich, weiterhin die Auseinandersetzung damit zu vermeiden" sagte er. Natürlich ist er in einem Dilemma: als Richter und berühmter Professor der Rechte hat er ein hohes internationales Ansehen, das er nicht gerne aufs Spiel setzt. Deshalb ist er daran interessiert, einen Zusammenstoß seines Gerichts mit den Richtern in Den Haag zu vermeiden.

Die Entscheidung über die Mauer in a-Ram hat einen interessanten Aspekt, der wenig beachtet wurde. Die einstweilige Verfügung war vorübergehend - und so ist es auch mit der Entscheidung ihrer Aufhebung. Barak verkündete, er erlaube der Regierung jetzt, mit dem Bau der Mauer zu beginnen, daß aber, wenn das Gericht schließlich entscheidet, daß der Verlauf der Mauer illegal ist, es dann notwendig sei, sie abzubauen und woanders wieder aufzubauen.

So wurde zum ersten Mal ausgesprochen, daß die Mauer in Wirklichkeit nur ein vorübergehendes Bauwerk ist. Der Baukran, der die vorfabrizierten Betonplatten einsetzt, kann sie mit der gleichen Leichtigkeit wieder anheben und wegnehmen.

Das mag für die Bewohner von a-Ram kein großer Trost sein, deren Leben und Geschäfte mittlerweile ruiniert werden, aber trotzdem ist es ermutigend. Es wiederholt, was wir bei all unseren Demonstrationen sagten: daß die Monstrosität an die Berliner Mauer erinnert. So wie die deutsche Mauer aber plötzlich in sich zusammenbrach, so wird auch diese fallen.

Dies wurde gestern bei einer Demonstration in Abu-Dis, nicht weit von a-Ram, ausprobiert. Israelis und Palästinenser kamen, um Arun Gandhi, den Enkel des legendären Mahatma Gandhi, zu treffen. Abu Ala, der palästinensische Ministerpräsident, selbst ein Bewohner von Abu Dis, hielt eine Rede. Später näherten wir uns der Mauer und schlugen sie symbolisch mit einem Hammer. Als ich an die Reihe kam, bemerkte ich, daß es sogar mit einem so kleinen Hammer möglich ist, kleine Stücke abzuschlagen. Ein wirklich großer Hammer könnte ein Loch schlagen.

Was noch wichtiger war: während einer der Reden bemerkten wir, daß wir das Interesse der Zuhörer verloren hatten. Alle Köpfe wandten sich zu etwas, das hinter uns geschah. In einer unglaublich gewagten Leistung kletterte einer der Demonstranten die steile Mauer hoch, trotz ihrer glatten Oberfläche nur mithilfe seine bloßen Hände und Füße. Nachdem er oben war, warf er ein Seil hinunter, und einige andere folgten ihm nach oben und enthüllten eine palästinensische Flagge.

Es kann also getan werden. Nicht von einer schwangeren Frau auf dem Weg ins Krankenhaus, nicht von Kindern auf dem Weg zur Schule, nicht von Familien auf dem Weg zu Verwandten, aber ein trainierter Selbstmordattentäter kann die Mauer bei Nacht überwinden. So schwinden die Sicherheitsargumente dahin.

Übrigens: die Berliner Mauer wurde zerstört und die Trümmersteine wurden als Erinnerungsstücke an Ausländer und einheimische Sammler verkauft. Ein wirklich wacher Unternehmer würde jetzt den Antrag für die Konzession stellen, Mauerstücke zu verkaufen, wenn die Zeit dieser Mauer gekommen ist.





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