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Erschießt nicht den Croupier!
11.04.2005


Uri Avnery
Übersetzung Ellen Rohlfs






Als einer anständigen Person erwartet man von mir, daß ich mit den Siedlern von Gush Kativ Mitleid empfinde. Sie zu umarmen. Eine Träne wegen ihres Leidens zu vergießen. Und es gibt tatsächlich Gründe für Mitleid. Menschen, die aus ihrem Umfeld, in dem sie Jahrzehnte gelebt haben, entwurzelt werden. Menschen mittleren Alters, die gezwungen werden, ihr Leben völlig neu zu beginnen. Kinder, die dort geboren wurden und gezwungen werden, in Schulen in anderen Orten zu wechseln. Menschen mit blühenden Geschäften, die sich nun neue Lebensgrundlagen aufbauen müssen, unter wer weiß, welchen Bedingungen.

Aber so sehr ich es auch versuche, kann ich wirklich nicht viel Mitleid für sie aufbringen.

Zunächst einmal ist es eine Sache des Verhältnisses. Ich selbst habe solch ein Trauma erfahren. Und so wie ich Millionen anderer Einwanderer, die in den letzten hundert Jahren in dieses Land gekommen sind - Einwanderer aus Russland, Polen, Deutschland, den arabischen Ländern, der früheren Sowjet-Union. Sie alle haben diese Erfahrung gemacht - und die meisten unter viel, viel härteren Bedingungen.

Mein Vater war 45 Jahre alt als er aus Deutschland floh, zusammen mit seiner 39 Jahre alten Frau und ihren vier Kindern. Sie wurden von ihren Familien und Freunden abgeschnitten, siedelten sich in einem weit entfernten Land an, mußten sich an eine andere Sprache, eine fremde Landschaft, ein völlig anderes Klima, an eine andere Kultur, eine andere Gesellschaft, andere Sitten und Gebräuche gewöhnen. Keiner gab ihnen einen Cent, weder als Ausgleich noch als Unterstützung. Beide, Vater und Mutter, wohlhabende Leute in ihrer Heimat, mußten uns mit schwerer körperlicher Arbeit durchbringen, die sie kaum gewöhnt waren. Wir lebten in tiefster Armut.

Verglichen damit ist das "Leiden" der Siedler ein Picknick.

Wir hören herzzerreißende Schreie über das "Entwurzeln von Juden aus dem Lande Israel". Das ist eine ziemlich verlogene Parole. Angenommen, Gush Kativ sei tatsächlich ein Teil von Erez Israel ist (und das ist umstritten) - die Orte, in die sie umziehen sollen, liegen ebenfalls sehr wohl innerhalb Israels. Ashkalon ist eine israelische Stadt, wie auch Ashdod und Tel Aviv. Die Weiten Galiläas und der Negev rufen sie und es gibt keine israelischeren Landschaften als diese.

Durch den Klang ihrer bemitleidenswerten Schreie, könnte man den Eindruck bekommen, daß sie in entlegene Länder jenseits der Berge der Finsternis verbannt würden. Aber die Entfernung von der bald zu evakuierenden West Bank-Siedlung Ganim zur israelischen Stadt Afula ist wie die zwischen Manhattan und Queens in New York City. Die Entfernung zwischen Berlin und Hamburg ist viel größer, wie auch die zwischen London und Liverpool. Wie viele Leute machen jedes Jahr solch einen Umzug?

Man erinnere sich daran, daß sie dies schon einmal mit Freude und Begeisterung getan haben, als sie Hertzlia, Jerusalem, Beit-Alpha und andere Orte verließen, um in die Siedlungen zu gehen.

"Juden vertreiben Juden!" wimmern die Siedler. "In einem demokratischen Land werden Bürger nicht gezwungen, ihre Häuser zu verlassen!" Stimmt das wirklich?

Wieviele Dörfer wurden in Ägypten umgesiedelt, um den Assuan-Staudamm zu bauen? Nun gut, Ägypten ist keine Demokratie. Aber in den demokratischen Vereinigten Staaten, wieviele Städte und Dörfer mußten für den Tennessee-Staudamm Platz machen? Jede Regierung verlegt Gemeinden, wenn es das öffentliche Interesse verlangt.

Aber es ist nicht aus diesen Gründen, daß es mir so schwer fällt, meine Mitleidsdrüsen zu aktivieren. Der Hauptgrund ist ein anderer.

Ausnahmslos jeder Siedler wußte, daß er oder sie in ein im Krieg erobertes Gebiet zog, in dem ein anderes Volk lebt und das außerdem niemals von Israel annektiert wurde (anders als Jerusalem und die Golan-Höhen). In anderen Worten: er hat seine Zukunft aufs Spiel gesetzt.

In der vergangenen Woche wiesen Anwälte der Regierung im Obersten Gerichtshof darauf hin, daß jeder Kauf- oder Pachtvertrag von Land in den besetzten Gebieten eine Klausel enthielt , die ausdrücklich seine vorübergehende Natur ausdrückte. Es ist selbstverständlich: nach internationalem Recht hält Israel diese Gebiete mit einer "kriegerischen Besatzung", die von Natur aus vorübergehend ist und nur so lange besteht, wie die Militärherrschaft. Wenn der Frieden kommt, verschwindet die Militärherrschaft mit all ihren Gesetzen und Entscheidungen.

Was nun die Siedler betrifft, so sind der ganze Gaza-Streifen und die West Bank ein großes Las Vegas. Sie können nicht einmal sagen, daß sie nicht vorgewarnt worden wären: meine Freunde und ich sagten es ihnen von Anfang der Besatzung an, sowohl in der Knesset als auch in den Medien.

Für viele, die kamen, die sogenannten "Lebensqualitäts-Siedler", war es eine sehr attraktive Wette. Junge Paare, ohne Mittel, um ein Haus in Israel zu erwerben, konnten eine Traumvilla auf ihrem eigenen Stück Land in den "Gebieten" bauen, fast ohne Kapitalanlage oder mit einer Summe, die kaum für zwei Räume in einem israelischen Slum ausgereicht hätte. Alles war fast kostenlos: großzügige Infrastruktur, geräumige Gärten für die Kinder, wunderschöne Landschaft (mit dem Blick auf malerische arabische Dörfer). Lebensqualität.

Unternehmer, die nicht das Geld hatten, sich in Israel ein Geschäft aufzubauen, konnten dies in Gush Kativ tun. Land im Überfluß für Treibhäuser. Palästinensische Arbeiter, die für einen Hungerlohn schuften mußten, weil ihnen die Besatzung alle anderen Möglichkeiten, den Lebensunterhalt für ihre Familien zu verdienen, blockierte. Oder Thai-Arbeiter, die aus dem Ausland importiert wurden und die bereit waren, 12 Stunden am Tag für sehr niedrige Löhne zu arbeiten. Da das israelische Gesetz in Gush Kativ nicht galt, gab es auch keinen Unsinn wie Mindestlöhne, jährlichen Urlaub, Krankengeld und Entlassungsabfindungen.

Wie wunderbar, ein israelischer Patriot an einem Ort zu sein, an dem die israelischen Gesetze keine Gültigkeit haben!

Viele Ausbeuter hüllen sich jetzt in die Nationalflagge, um so zu versuchen, ihre Privilegien zu retten. Aber natürlich gibt es auch einen harten Kern von wirklich nationalistisch-messianischen Ideologen. Sie siedelten dort, um Groß-Erez-Israel (oder eher, auf Hebräisch, "das ganze Erez Israel") in Besitz zu nehmen und zu verhindern, daß das palästinensische Volk jemals seine Freiheit in einem eigenen Staat erhält. Diese Siedler verbargen nie ihre Absicht, die palästinensische Bevölkerung zu entwurzeln, und sie durch eine jüdische zu ersetzen.

"Dies ist keine Evakuierung, dies ist ein Transfer!" schreien sie jetzt ohne jede Scham und verwenden das bekannte Codewort für ethnische Säuberung. "Transfer"? Aber von Anfang an war der Transfer der Palästinenser ihr eigenes Ziel! "Entwurzeln"? Aber sie wollten doch die Palästinenser entwurzeln - und sie arbeiteten unermüdlich daran. Viele von ihnen halten dies sogar für ein religiöses Gebot.

"Die Regierung hat uns hierher geschickt - und nun will sie uns von hier vertreiben!"

Nun, zunächst einmal hörten wir nie, daß jemand gezwungen wurde, in die besetzten Gebiete zu ziehen. Die verschiedenen Regierungen ermunterten sie, verletzten das Gesetz und drückten ein Auge zu, beraubten die Allgemeinheit, um Gelder in die Siedlungen zu schütten. Stimmt. Aber niemand wurde gezwungen, dorthin zu gehen. Soldaten erhalten Befehle und haben keine Alternative als zu gehorchen. Jeder Siedler hatte eine Alternative.

Zweitens, derjenige, der ernennt, hat auch das Recht, zu entlassen. Derjenige, der jemanden schickt, hat auch das Recht, zurückzurufen. Wenn die Siedler nur Gesandte sind, können sie auch hierhin und dorthin geschickt werden.

Und was das menschliche Mitleid betrifft - so verlangen es die Siedler von uns, scheinen es aber selbst nie jemand anderem gegenüber zu empfinden. Es ist etwas Widerliches in ihrer Unfähigkeit, den Anderen zu sehen. Es ist eine Art von gefühlsmäßiger Unzurechnungsfähigkeit. Die Massenvertreibung der Araber ist in Ordnung. Die Vertreibung von ein paar tausend Juden innerhalb des Landes ist ein "zweiter Holocaust". Das "Entwurzeln von Juden" aus 20 bis 30 Jahre alten Siedlungen ist ein schreckliches Verbrechen. Das Entwurzeln von 750.000 Palästinensern, die seit hunderten oder tausenden von Jahren auf ihrem Land gelebt haben, war ein gerechter Akt der "moralischsten Armee der Welt". Man muß ein jüdisches Kind bemitleiden, das gezwungen wird, sich mit seinen Freunden an eine neue Schule zu gewöhnen, aber warum sollte man Mitleid an ein arabisches Kind verschwenden, das in einem verkommenen, armseligen Flüchtlingslager geboren und aufgewachsen ist?

Ganz zu schweigen von den Taten der Siedler in Hebron, Yitzhar, Tapuah und vielen anderen Orten: das Feuern auf Bewohner, die Durchführung von Pogrome in den Dörfern, die gewaltsame Übernahme des Landes, Zerstörung von Brunnen, Besprühung von Feldern mit Gift, Ausreißen von Olivenbäumen und dem Stehlen ihrer Früchte und so weiter.

Aus all diesen Gründen ist es sehr schwierig, sie zu bedauern. Die "Lebensqualitäts-Siedler" und die mit messianischer Vision haben mit großen Wetteinsätzen gespielt. Sie haben mit ihrer Zukunft gespielt. Sie wetteten und haben verloren.

So wie die Million französischer Siedler in Algerien, die innerhalb weniger Wochen, als das Land die Unabhängigkeit erhielt, rausgeschmissen wurden und nach Frankreich zurückkehrten.

Trotz all dem bin ich nicht dagegen, sie großzügig zu entschädigen. Im Gegenteil, unmittelbar nach dem Oslo-Abkommen beteiligte ich mich an einem öffentlichen Appell von Gush Shalom an den damaligen Ministerpräsidenten Yitzhak Rabin, in dem er aufgerufen wurde, den Siedlern, die bereit waren, freiwillig zu gehen, sofort großzügige Entschädigungen zu zahlen.

Rabin weigerte sich. Ja, es kam noch schlimmer: er fuhr fort, die Siedlungen in wahnsinniger Geschwindigkeit zu vergrößern, wie es auch all seine Nachfolger taten. Selbst die Siedler, die bereit waren, zu gehen, konnten dies nicht und waren praktisch in ihren Siedlungen gefangen, da sie ihre Häuser nicht verkaufen und woanders ein neues Leben beginnen konnten. Tatsächlich ist das bis zum heutigen Tag ihre Situation.

Wir sprachen von großzügigen Entschädigungen. Aber was "schuldet" man ihnen denn?

Ein Spieler, der beim Roulette all sein Geld verloren hat, kann keine Entschädigung erwarten. Als eine Maßnahme der Großzügigkeit, und um ihre Rückkehr zu beschleunigen, wäre es weise, den Siedlern das Geld zu zahlen, das sie anfänglich investiert haben, und das ist äußerst wenig. Und noch einmal, aus Großzügigkeit bin ich dafür, genug zu zahlen, um ihnen zu helfen, in Israel ein neues Leben zu beginnen. Als humanitäre Geste und auch als Wink gegenüber den Siedlern in der West Bank, daß es sich lohnt, so bald wie möglich heimzugehen.

Für Ariel Sharon, der die Siedler geschubst, verwöhnt und ihnen den Weg bereitet hat, muß es schwierig sein die Worte herauszubringen. Aber wir, die Bürger Israels, können sagen: Kameraden, Ihr habt groß gewettet und verloren.

Es ist menschlich, wenn ihr schreit und euch die Haare rauft. Aber es gibt keinen Grund, zu versuchen, den Croupier zu töten. Ihr müsst euren Spielzwang überwinden.

Und wenn wir, die Bürger Israels, bereit sind, euch aus unseren Geldbeuteln großzügige Entschädigungen für die von euch verlorenen Jetons zu zahlen, dann solltet ihr wenigstens den Anstand haben, "Danke!" zu sagen.





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