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Die Geschichte zweier Demonstrationen

01.05.2005


Uri Avnery
Übersetzung Ellen Rohlfs




Vorgestern fanden zwei Demonstrationen im Abstand von nur wenigen dutzend Kilometern statt.

Die eine fand bei der Siedlung Homesh statt, nicht weit von Jenin. Zehntausende von Siedlern und ihrer Sympathisanten kamen, um gegen die geplante Evakuierung dieser Siedlung zu demonstrieren. Die Demonstranten schworen, die Entscheidungen der Regierung und der Knesset zu sabotieren. Einer von ihnen erklärte, daß sie höchstens in Särgen, mit der Nationalflagge bedeckt, weggetragen werden könnten.

Hunderte von Soldaten und Polizisten waren entlang des Weges stationiert, um die Demonstranten vor allen Eventualitäten zu schützen. Der offizielle Radiosender "Stimme Israels" erzählte seinen Hörern, die Verkehrspolizei würde aufgrund vom Befehlen der Führer des Siedlerrates handeln.

Zur selben Zeit fand eine andere Demonstration bei Bil'in, westlich von Ramallah, statt. Seine Bewohner und die der benachbarten Dörfer demonstrierten zusammen mit israelischen Friedensaktivisten gegen den "Trennungszaun", der auf ihrem Land errichtet wird.

Diese Demonstration wurde heftig von Soldaten und Polizisten attackiert, die die Demonstranten angriffen, sie schlugen, verletzten und verhafteten und althergebrachte und neue Waffen benützten. Die Sicherheitsleute hatten, wie ein hebräischer Ausdruck lautet, "Mord in den Augen".

In dieser Region gibt es nicht einmal die Vortäuschung, daß der Sicherheitszaun Sicherheitszwecken diene. Das wirkliche Ziel ist für jeden, der diesen Ort besucht, offensichtlich: Bil'in und die anderen Dörfer ihres Landes zu berauben, um so die Siedlung von Kiryat Sefer zu erweitern.

Ich erinnere mich noch an den Ort von vor zehn Jahren. Damals waren gut gepflegte Olivenhaine enteignet und mit Planierraupen zerstört worden. Zu jener Zeit hatten uns die Dorfbewohner auch darum gebeten, dagegen zu protestieren und zu versuchen, dies zu stoppen.

Nun ist dort eine große Stadt ultra-orthodoxer Juden gebaut worden und wächst rapide. Der Trennungszaun wird nahe an den letzten Häusern von Bil'in verlaufen und das Dorf von seinen verbliebenen Ländereien abschneiden. Auf diesem Land werden neue Stadtteile von Kiryat Sefer gebaut werden. Zusammen mit den nahegelegenen Siedlungen von Modi'in Ilit und Matitiyahu ist es einer der "Siedlungsblöcke", die die israelischen Regierungen (ob Likud oder Arbeiter) mit dem Segen von Präsident Bush annektieren wollen.

Der Plan der Dorfbewohner war, eine friedliche Demonstration auf der Route des Zaunes abzuhalten und dort symbolisch einige Olivensetzlinge zu pflanzen. Aber Erfahrungen in dieser Region lehrten uns, daß man damit rechnen mußte, daß die Sicherheitskräfte mit Gewalt reagieren würden. Deshalb wurden nur Aktivisten gebeten daran teilzunehmen, die die Lage kannten und Erfahrung im Umgang damit hatten. Wir waren etwa 200 Israelis, Männer und Frauen jeden Alters. Die im Bus gegebenen mündlichen und schriftlichen Anweisungen warem, die Demonstration absolut gewaltfrei zu halten.

Wir erwarteten, daß die Busse unterwegs angehalten würden, und waren auf diese Möglichkeit vorbereitet. Wir waren daher ziemlich überrascht, als wir das Dorf ohne Zwischenfall erreichten. Erst später wurde uns klar, daß es eine Falle war.

In dem Dorf schlossen wir uns etwa tausend Bewohnern von diesem und den benachbarten Dörfern, Männer, Frauen und Kinder, an und begannen gemeinsam den Marsch in Richtung auf die geplante Route des Zaunes. An der Spitze gingen der frühere palästinensische Minister Kadura Fares, der palästinensische Präsidentschaftskandidat Dr. Mustafa al-Bargouthi, die arabischen Knessetmitglieder Barakeh, Sakhalka und Dahamsheh, die Bürgermeister der Dörfer und ich. Wir hielten in unsern Händen Olivenzweige, die wir auf der Route des Zaunes pflanzen wollten. Die Dorfjugend trug eine 50 Meter lange palästinensische Fahne. Vor uns fuhr langsam ein geschmückter Wagen und ein palästinensischer Aktivist verkündete durch einen mächtigen Lautsprecher auf hebräisch: "Dies ist eine friedliche und gewaltfreie Demonstration".

Etwa einen Kilometer vor dem Verlauf des Zaunes hielt uns eine Kette Sicherheitsleute an. Sie trugen keine Abzeichen, und so wußten wir nicht, ob dies Soldaten oder Grenzpolizisten waren.

Plötzlich wurde ohne Vorwarnung eine Salve Tränengasgranaten auf uns abgeschossen. Innerhalb von Sekunden waren wir von einer Wolke aus weißem Gas eingehüllt, und der Lärm explodierender Granaten aus allen Richtungen kam auf uns zu.

Die Demonstranten zerstoben hustend und würgend nach zwei Seiten. Manche von ihnen gingen um die Soldaten herum und setzten den Marsch über das felsige Terrain fort. Sie wurden von einer zweiten Reihe angehalten und auch mit Tränengas überschüttetet.

Wir, an der Spitze der Demonstration, gingen weiter und erreichten einen Punkt, der etwa 50 Meter von der Route des Zaunes entfernt war, als uns eine dritte Reihe von Soldaten angriff. Barakeh hatte einen hitzigen Wortwechsel mit einem der Offiziere und während sie noch argumentierten, feuerte ein Soldat eine Gasgranate aus nächster Nähe zwischen Barakehs Beine. Er wurde leicht am Bein verletzt. Ein anderer, besonders wilder Soldat riß mir das Poster - das Gush-Shalom-Zeichen mit den gekreuzten Fahnen Israels und Palästinas - aus den Händen, stieß mich heftig und warf mich um.

An anderen Stellen waren die Randale noch schlimmer. Muhammad Hatib, einer der Bürgermeister, bemerkte einen Mann mit verdecktem Gesicht, der begann, Steine auf die Soldaten zu werfen. Er lief zu ihm und schrie: "Wir haben entschieden, keine Steine zu werfen! Wenn Du Steine werfen willst, mach dies in deinem eigenen Dorf und nicht in unserem! Aus welchem Dorf kommst du eigentlich?" Der Mann wandte sich ihm zu, griff ihn an und rief gleichzeitig seine Kollegen herbei, riß das Tuch von seinem Gesicht und setzte sich eine Polizeikappe auf.

So enthüllte sich das Geheimnis und wurde von Kameras dokumentiert: "arabisierte" Undercover-Soldaten waren ausgesandt worden. Diese begannen mit dem Steinewerfen auf die Sicherheitsleute, um ihnen einen Vorwand zu liefern, uns anzugreifen. In dem Augenblick, in dem sie entdeckt worden waren, wandten sie sich den ihnen am Nächsten stehenden Demonstranten zu, zogen Revolver und begannen, sie zu verhaften. Später, als klar wurde, daß dies von ausländischen Fernsehteams aufgenommen worden war, bestätigte die Polizei offiziell, daß das Steinewerfen die Methode von "arabisierten" Undercover-Soldaten sei, um in der Menge der Demonstranten unterzutauchen.

Im Laufe des Tages kamen noch mehr Details zum Vorschein: dies war eine Einheit, die zuvor noch nie an solch einer Aktion beteiligt war: die Gefängnisdiensteinheit "Massada", deren normale Aufgabe es ist, Aufstände in den Gefängnissen zu unterdrücken. Dies ist eine besonders brutale Gruppe, wohl die brutalste im Land, die mit neuen Mitteln zur "Aufstandsbekämpfung" ausgerüstet ist. Unter anderem mit Salzkugeln, die dazu bestimmt sind, besonders schmerzhafte Wunden zu verursachen. Der schon oben erwähnte Muhammad Hatib, 30 Jahre alt und Vater von zwei Kindern, erhielt vier Kugeln in seinen Rücken: große geschwollene, schwarz-blaue Ringe über seinen ganzen Rücken.

Diese Salzkugeln waren zu Beginn der 90er Jahre aus Amerika nach Israel gebracht worden, aber bis jetzt schreckte die Armee davor zurück, sie einzusetzen, weil sie einen öffentlichen Aufschrei fürchtete. Sie wurden an uns das erste Mal getestet.

Es scheint, daß die Armee die ganze Sache im voraus als Falle vorbereitet hatte. Die "Massada"-Einheit probierte ihre neuen Taktiken und Waffen an diesem friedlichen Marsch von Zivilisten aus.

Der erschreckende Unterschied zwischen der Art und Weise, wie die beiden Demonstrationen behandelt wurden, läßt nachdenklich werden.

Die Siedler versuchen offen, den Staat zu lähmen, die Ausführung der Regierungs- und Knessetentscheidungen zu verhindern und letztlich die israelische Demokratie zu stürzen. Aber Ariel Sharon und seine Leute rufen öffentlich dazu auf, "sie zu umarmen", "sie zu lieben" und "Verständnis für ihr Leid zu haben". Das ist die Direktive, die den Sicherheitskräften gegeben wurde. Für Friedensaktivisten ist eine ganz andere Behandlung vorgesehen.

Dies wirft ein Licht auf ein noch wichtigeres Phänomen, das die Zukunft Israels entscheiden mag. Hier haben sich die Menschen schon so daran gewöhnt, daß es für sie natürlich ist. Im Ausland weiß man nichts davon.

Tatsache ist, daß alle israelischen Medien täglich ihre Hauptnachrichten der Propaganda der Siedler widmen. Jedes einzelne Nachrichtenprogramm auf allen drei Fernsehkanälen widmet sich ausführlich jeden Abend den Angelegenheiten der Siedler, Reden von Siedlern und Interviews mit Siedlern. Oft füllen diese Berichte das halbe Nachrichtenprogramm.

Zwischen den Siedlern und den Medien ist eine Art Symbiose entstanden - sie arbeiten "mit einem Kopf". Jeden Tag werden mehrere Ereignisse für die Medien vorbereitet und diese schöpfen sie gierig aus und dienen so als unbezahlte Propagandaorgane der Siedler und der äußersten Rechten. Es gab einmal eine Zeit, da war es üblich, der andern Seite - um der "Balance" willen - das Recht der Antwort zu geben. Nicht mehr. Es gibt keine andere Seite.

Im Nachrichtenprogramm wird nicht ein Wort - buchstäblich kein einziges Wort - der Kritik an den Siedlern laut. Das Establishment der "Linken" spricht auch von der Notwendigkeit, "sie zu umarmen" und "sie zu verstehen", und so tun es natürlich alle Sprecher der Regierung und der großen Parteien. Leuten, die eine gegensätzliche Meinung haben, wird keine Gelegenheit gegeben, in den Hauptmedien des Landes über die Siedler zu reden.

Auf diese Weise stellt die israelische Demokratie alle ihre Medien den Feinden der Demokratie zur Verfügung. Selbst in der Weimarer Republik ging die Dummheit nicht so weit.

Absurd? Das scheint nur so. In Wirklichkeit reflektiert es die reale Situation: trotz der lauten Rede über "Abzug" ist Sharons Herz bei den Siedlern. Er will die meisten West Bank-Siedlungen - wenn nicht gar alle - annektieren.

Die gegenwärtige Kontroverse über eine Handvoll kleiner Siedlungen im Gaza-Streifen ist in seinen Augen eine Art Familienkabbelei und wird schnell vorübergehen. Tatsächlich mag Sharon daran interessiert sein, die Aufregung zu schüren, um die Amerikaner zu überzeugen, daß es unrealistisch sei, von ihm zu erwarten, die West Bank-Siedlungen und die Außenposten aufzulösen. In der Tat haben Armee und Polizei niemals Tränengas gegen Demonstranten vom rechten Flügel eingesetzt, auch dann nicht, wenn sie physisch angegriffen oder gar verletzt wurden (wie es beispielsweise regelmäßig in Hebron geschieht) oder wenn die Siedler wichtige Straßen blockieren und riesige Verkehrsstaus verursachen.

Andererseits ist die Kontroverse mit uns, den Friedensaktivisten, der wirklichen Opposition der Regierung, ein echter Kampf um die Zukunft Israels: ob es ein Staat innerhalb der Grenzen der Grünen Linie sein wird, ein liberaler, demokratischer Staat, der in Frieden mit einem lebensfähigen palästinensischen Staat an seiner Seite lebt; oder ein aggressiver, nationalistischer Staat, der praktisch die ganze West Bank festhält und die Palästinenser in ein paar isolierte Enklaven einsperrt.

Wenn man dies so sieht, dann sind die der Armee gegebenen Direktiven ganz logisch: Umarmt die Siedler, weil sie eure Brüder sind - und schlagt die Friedensaktivisten, weil sie eure Feinde sind.





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