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Der Marsch der Orangehemden

Ein angstvoller Blick in Israels Zukunft

24.07.2005  


Uri Avnery
Übersetzung Ellen Rohlfs




Seit einigen Wochen flackert bei mir ein rotes Licht auf, das ein Wort in großen Buchstaben in Frakturschrift beleuchtet: Weimar.

Als Neunjähriger wurde ich Augenzeuge des Zusammenbruchs der deutschen Republik, die nach dem 1.Weltkrieg entstanden war. Sie wurde allgemein als Weimarer Republik bezeichnet, weil ihre Verfassung in der Stadt der beiden herausragenden Gestalten deutscher Kultur, Goethe und Schiller, geschrieben wurde. Einige Monate nach dem Zusammenbruch flohen wir aus Deutschland und so wurde unser Leben gerettet.

Seitdem ist alles, was ich mit dem Zusammenbruch der Republik gesehen und gehört habe, in mein Gedächtnis eingebrannt. Ich habe Hunderte von Büchern über dieses Ereignis gelesen. Die große Frage, die mich seitdem verfolgt hat und die bis heute unbeantwortet geblieben ist, lautet: Wie konnte so etwas geschehen? Wie konnte eine Verbrecherbande mit einer unmenschlichen Ideologie sich eines Staates bemächtigen, dessen Nation zu dieser Zeit vielleicht den höchsten kulturellen Stand in der Welt hatte?

Am Vorabend des Eichmannprozesses, in 1960, schrieb ich ein Buch darüber und beendete es mit der Frage: Kann dies hier geschehen?

Heute gibt es kein Entkommen vor der schrecklichen Antwort: Ja, es kann hier geschehen. Wenn wir uns wie die Menschen der Weimarer Republik benehmen, dann werden wir dasselbe Schicksal erleiden wie die Menschen der Weimarer Republik.

In der Vergangenheit habe ich oft gezögert, den Vergleich zu ziehen. Bei uns gibt es ein Tabu, was Nazi-Deutschland betrifft. Da nichts in der Welt mit dem Holocaust verglichen werden kann, sollten keine Vergleiche mit dem Deutschland der damaligen Zeit gezogen werden.

Nur selten ist dieses Tabu gebrochen worden. David Ben-Gurion nannte Menachim Begin einmal "einen Schüler Hitlers". Begin seinerseits hat Yassir Arafat "den arabischen Hitler" genannt, und vorher noch wurde Gamal Abd-al-Nasser in Israel als der "Hitler am Nil" bezeichnet. Professor Yeshayahu Leibowitz - in seiner üblichen provozierenden Art - sprach von "Judeo-Nazis" und verglich Spezial-Einheiten der israelischen Armee mit der SS. Aber dies waren Ausnahmen. Im allgemeinen wurde das Tabu beachtet.

Heute nicht mehr. In ihrem Kampf gegen die "verfaulte" israelische Demokratie, haben die Siedler Holocaustsymbole übernommen. Sie tragen demonstrativ den Gelben Stern, den Juden vor der Vernichtung auf Befehl der Nazis tragen mußten, nur daß jetzt gelb mit orange ersetzt wird. Sie schreiben sich ihre Identitätsnummern auf ihre Arme, ähnlich den tätowierten Zahlen, mit denen die Nazis die Auschwitzgefangenen brandmarkten. Sie nennen die Regierung den "Judenrat" - es ist der Name, den man den - von Nazis bestimmten - jüdischen Räten in den Ghettos gab - und vergleichen die Evakuierung der Siedler von Gush Kativ mit der Deportation der Juden in die Todeslager. All dies live im Fernsehen.

Also gibt es keinen Grund mehr, die Sache nicht beim richtigen Namen zu nennen: ein großes faschistisches Lager bedroht nun die israelische Demokratie.

Was in der vergangenen Woche in Israel geschah, ist nicht mehr ein legitimer "Protest", auch kein demokratisches Bemühen, die öffentliche Meinung zu beeinflussen, um die Entscheidungen der Regierung und der Knesset zu ändern. Es ist auch keine Kampagne des zivilen Ungehorsams einer Minderheit, die versucht, die Änderung der Entscheidungen der Mehrheit zu erzwingen.

Es ist weit mehr: es ist der Anfang eines Versuches, das demokratische System selbst mit Gewalt zum Kippen zu bringen.

Es ist der harte Kern der Siedler, der praktisch von allen Siedlern als ihre Führung akzeptiert wird, und der sich gegen die israelische Demokratie wendet. In der vergangenen Woche sahen wir Zehntausende von ihnen. Wir kommen nun nicht um die Erkenntnis herum, daß dies eine revolutionäre Bewegung mit einer revolutionären Ideologie ist, die revolutionäre Mittel anwendet.

Was ist das für eine Ideologie? Sie wurde laut und deutlich und immer wieder vom Hauptsprecher der Bewegung proklamiert: Gott gab uns dieses Land. Das ganze Land und seine Früchte gehören uns. Jeder, der nur einen Quadratmeter Land an Fremde (gemeint sind die seit vielen Generationen hier lebenden Araber) gibt, verletzt die Gebote der Torah. Die Torah ist rechtsverbindlich. Alle Regierungsentscheidungen, Knessetgesetze und Gerichtsurteile sind null und nichtig, wenn sie Gottes Wort widersprechen, das uns von den Rabbinern übermittelt wird. Diese stehen über den Ministern, den Knessetmitgliedern, den Richtern des Obersten Gerichtshofs und den Armeekommandeuren - wie in Khomeinis fundamentalistischem Iran.

Ein großer Teil dieses Lagers bekennt sich offen zu den Lehren von Meir Kahane, dessen Gesicht überall von marschierenden Siedlern auf deren Hemden, Flaggen und Plakaten abgebildet war. Kahane predigte öffentlich, was viele der Siedler und vielleicht die meisten von ihnen privat sagen: Gott hat uns nicht nur dieses Land versprochen, sondern uns auch (im Buch Josua) befohlen, alle nicht-jüdischen Bewohner zu vernichten. Es gibt hier keinen Platz für sie. Wenn sie nicht mit Terror zum Verlassen gebracht werden können ("freiwilliger Transfer"), müssen sie vernichtet werden. Mit den Worten von einem der Rabbiner im Fernsehen dieser Woche: Wenn sie nicht gehen, dann müssen sie "den Preis zahlen". Dies schließt natürlich auch die 1,25 Millionen arabischen Bürger von Israel selbst ein.

Einer der Führer des Marsches, Zviki Bar-Hai, erklärte im Fernsehen: "In diesem Kampf geht es um die Prägung des Staates."

99% der vielen Tausend, die wir im Fernsehen dieser Woche sahen, trugen eine Kippah und viele von ihnen trugen Bärte und Schläfenlocken; die Frauen trugen lange Röcke und ihr Haar bedeckt. Alle von ihnen sind "wiedergeborene Juden" oder gehören zum "national-religiösen" Lager - einer nationalistisch-messianischen Sekte, die glaubt, den Weg für die "Erlösung" vorzubereiten. Man muß es klar erkennen: In Israel hat die jüdische Religion eine Wandlung durchgemacht, die ihr Wesen völlig verändert hat.

Es gibt keine wissenschaftlich allgemein anerkannte Definition für "Faschismus". Ich definiere ihn mit den folgenden Attributen: der Glaube an ein überlegenes Volk (Herrenvolk, auserwähltes Volk, überlegene Rasse), das komplettes Fehlen moralischer Verpflichtungen gegenüber anderen, eine totalitäre Ideologie, die Verleugnung des Individuums außer als Teil der Nation sei; Verachtung für Demokratie und eine Gewaltkultur. Dieser Definition zufolge ist ein großer Teil der Siedler Faschisten.

Über die Weimarer Republik ist gesagt worden, daß sie nicht von den "Braunhemden" gestürzt worden, sondern daß sie in sich selbst zusammengebrochen sei, weil im entscheidenden Augenblick fast keiner bereit war, aufzustehen und sie zu verteidigen.

In der vergangenen Woche marschierten Tausende von "Orangehemden" in Richtung Gush Kativ, wie ein fernes Echo des "Marsches nach Rom" (1920) durch Benito Mussolinis "Schwarzhemden", die die italienische Demokratie stürzte. Etwa 20 000 Soldaten und Polizisten waren mobilisiert worden, um sie zu stoppen. Oberflächlich betrachtet, haben die Armee und die Polizei gesiegt, da die Orangehemden den Gaza-Streifen nicht erreichten. Aber drei Tage lang bewiesen die Rebellen unter brennender Sonne ihre Entschlossenheit, Einigkeit und Disziplin.

Es gab eine Kakophonie an Stimmen. Siedler und Siedlerinnen schrien , ihre gehirngewaschenen Kinder kreischten, die auf den Armen ihrer Mütter getragenen schwitzenden Babys mit roten Gesichtern weinten, die Anführer hielten Reden, die Armee- und Polizeioffiziere bellten ihre Befehle. Nur eine Stimme war nicht vorhanden: die Stimme der israelischen Öffentlichkeit.

Während dieser drei schicksalhaften Tage erhob keiner der intellektuellen Führer, kein Schriftsteller wie S.Yishar, Amos Oz, A.B. Yeshohua und David Grossman, kein bedeutender Professor, kein Dichter oder Künstler seine Stimme gegen die Siedler und ihre Verbündeten. Alle Persönlichkeiten, die in der Vergangenheit in die Falle der "Versöhnung" mit den Siedlern und den "kulturellen Pakt" mit der extrem religiösen Rechte gefallen waren, wagten nicht, sich zu befreien und auf die große Gefahr hinzuweisen, in der der demokratische Staat sich jetzt befand. Eine ihre Entschuldigungen war, daß sie nicht als Unterstützer Ariel Sharons gesehen werden wollten.

Keine der großen öffentlichen Organisationen - von der Rechtsanwaltskammer, der Handelskammer bis zum Journalistenverband und den akademischen Körperschaften - hielt es für nötig, die Stimme zu erheben, um die Demokratie zu verteidigen, während die orangefarbenen Militanten alle Fernsehkanäle überfluteten, die nicht einmal versuchten, andere Ansichten zu präsentieren. Die Schweigen der Schafe. Das Schweigen von Weimar.

Ich hoffe, daß sich dies ändern wird, wenn die Konfrontation sich dem Höhepunkt nähert. Ich hoffe, daß die israelische Demokratie in sich die verborgene Stärke findet, die in Weimar tragischerweise nicht vorhanden war. Das wird jedoch nicht geschehen, wenn nicht mutige Leute die Trompete laut ertönen lassen und die schweigende Mehrheit nicht ihr Schweigen aufgibt und ihren Standpunkt laut mit Stimme und Farben demonstriert.

Sonst wird der "Marsch nach Gush Kativ" nur ein Vorgeschmack auf den "Marsch nach Jerusalem" sein.





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