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Teure Siedler

Briefe an die Siedler, an die Yesha, die Medien, Sharon und Prof. Leibowitz

29.08.2005  


Uri Avnery
Übersetzung Ellen Rohlfs




Teure Siedler -

"Teuer" im buchstäblichsten Sinne.

Endlich muß es ausgesprochen werden, ohne scheinheiliges Mitleid, ohne "Wenn" und "Aber".

Wir haben Milliarden Schekel gezahlt, um Euch im Gaza-Streifen anzusiedeln. Wir haben Milliarden bezahlt, um Euch dort zu halten und die meisten von Euch lebten dort auf unsere Kosten. Wir haben Milliarden gezahlt, um Euch zu verteidigen und Dutzende Soldaten und Soldatinnen verloren dabei ihr Leben. Nun zahlen wir Milliarden (Acht? Zehn? Zwölf?), um Euch dort herauszuholen und Euch großzügige Entschädigungen zu zahlen.

Aber das ist noch nicht alles. Wieder schreit Ihr. Wieder werdet Ihr beraubt. Wieder schlden wir Euch noch viel, viel mehr. Ganze Landstriche, am besten entlang der Küste, sollen speziell für Euch reserviert werden, damit Ihr Euch "als ganze Gemeinschaften" wieder ansiedeln könnt. Damit Ihr abgesondert leben könnt. Damit Ihr Eure eigenen gesonderten Schulen haben könnt. Damit Ihr Regierungsgehälter als Angestellte des örtlichen Gemeinderats, des Kultus- und des Verteidigungsministeriums beziehen könnt.

Ich weiß nicht, ob das Guinness-Buch der Rekorde Titel an Meister der Unverschämtheit, Dreistigkeit und Frechheit - kurz gesagt, die gute alte jiddische Chutzpe - vergibt. Wenn ja, dann solltet Ihr ihn mit links gewinnen. In der Vergangenheit schuldeten wir jedem einzelnen von Euch nur eine Luxusvilla für fast nichts, außerdem eine Quelle des Lebensunterhalts, Land und Wasser, jetzt scheint es, wir schulden Euch alles. Es ist Euer Recht, Euch selbst an Geldern, die für die Kranken, die Alten, die Behinderten, die Kinder, die Arbeitslosen benötigt werden, zu bedienen. Weil Ihr die Besten der Besten seid. Weil Ihr den Bart des Messias festhaltet. Weil Ihr persönlich von Gott auserwählt wurdet.

Ich hätte vielleicht mit Eurer Notlage etwas Mitleid gehabt, wenn Ihr nur ein Wort des Mitgefühls mit den Bewohnern der 1.500 palästinensischen Häuser geäußert hättet, die Euretwegen zerstört worden waren - eine größere Zahl an Häusern als die, die jetzt zerstört werden. Wenn Ihr etwas Mitgefühl für die Kinder ausgedrückt hättet, die innerhalb einer halben Stunde aus ihren Häusern vertrieben wurden - ohne Entschädigung, ohne Hotel und ohne Psychologen. Für die tausenden Bäume, die entwurzelt wurden, um Euch "Sicherheit" zu geben.

Wie der gute Rabbi Hillel vor 2.000 Jahren sagte, als er den Totenschädel im Fluß vorbeischwimmen sah: "Der du andere ertränkt hast, so bist du ertränkt worden ..."

Und bitte, erinnert Euch daran: die Rechnung wurde nicht "vom Staat", einer anonymen Institution, gezahlt, sondern von mir und den israelischen Lesern dieser Kolumne, aus unseren eigenen Taschen.


An den "Yesha-Rat", Shalom -

Das war es nun. Der Bluff ist vorbei. Die Blase ist geplatzt.

Monatelang habt Ihr uns in Schrecken versetzt. Ihr habt uns mit Phantasiezahlen bombardiert. Einhunderttausend Demonstranten. Einhundertfünfzigtausend. "Alles in allem haben wir zwei Millionen Menschen mobilisiert". Das heißt: fast 40 Prozent der israelischen Juden.

Und Ihr sagtet uns: Das ist noch gar nichts. Im richtigen Augenblick werden Hunderttausende nach Gush Katif marschieren. Zehntausende Soldaten und Offiziere werden die Befehle verweigern. Alle Straßen im Lande werden blockiert sein. Der Staat wird zum Stillstand kommen. Das ganze Volk wird sich erheben und den bösen Plan jenes Mannes - des einen, einzigen Mannes - zunichte machen, der die "Erlöser des Landes", aus dem Gaza-Streifen verjagen will.

Und was geschah? Der Himmel stürzte nicht in sich zusammen. Nicht eine einzige Straße wurde blockiert. Nur eine Handvoll Soldaten verweigerte die Befehle - viel weniger als die Wehrdienstverweigerer aus Gewissensgründen aus dem Friedenslager. Und im Gegensatz zu ihnen riskierte keiner von Euch, für ein Jahr oder länger ins Gefängnis zu gehen.

Und was noch wichtiger ist: Ihr seid allein geblieben. Ganz allein. Das wurde schon vom ersten Augenblick an deutlich, bei Euren großen Demonstrationen, als fast niemand da war, der nicht eine gestrickte Kippah der National-Religiösen trug oder eine größere Kippah der zur Religion Zurückgekehrten Juden. Kein anderer Teil der Bevölkerung hat sich Euch angeschlossen: nicht die Linken, nicht die Mitte, nicht die Säkularen vom rechten Flügel, nicht einmal die Orthodoxen. All die arroganten Prahlereien, die wir morgens und abends hörten, zerplatzten wie eine Seifenblasen.

Nichts davon blieb - außer der Mutter aller Fehlschläge. Doch statt sich nun voller Scham von der Bühne zurückzuziehen, um in sich zu gehen und das Mißlingen zu schlucken, verbleibt Ihr auf dem Gipfel der Chuzpe und macht weiter, als wäre nichts geschehen.


An die Medien, Shalom -

Entschuldigen Sie mich, da ich Sie anrede, als wären Sie eine einzige Person. Zwar bestehen Sie aus vielen Zeitungen, Radiosendern und Fernsehnetzwerken, aber ich wende mich an Sie in der Einzahl, weil Sie während der letzten Wochen genau das waren. Sie sprachen alle wie eine Person, in ein und demselben Stil, mit einem Wortschatz. Und alle von Ihnen, abgesehen von einigen wenigen, haben Ihre Pflicht verraten.

Wochenlang haben Sie der Siedlerpropaganda eine Plattform geboten. Alle Zeitungen. Alle Radiosender. Alle Fernsehnetzwerke. 24 Stunden am Tag. sieben Tage in der Woche. Jedes Murren, jeder Rülpser der Siedler war eine Schlagzeile, wenn nicht eine Sensation. Die Stimme des Friedenslagers wurde kaum gehört, die konsequentesten Gegner der Siedler wurden überhaupt nicht wahrgenommen.

Sie haben uns eine Stunde um Stunde in einem Meer von Kitsch ertränkt, Stunde um Stunde Heulen und Schluchzen, simulierte Hysterie und wirkliche Hysterie. Eine unendliche Reihe von Szenen, die sorgfältig für das Fernsehen mit der bewußten Absicht vorbereitet wurden, "sich ins Bewußtsein einzubrennen" und ein "Trauma zu schaffen". Vom Dach der Sanur-Festung rief das Knessetmitglied Aryeh Eldad nach "Käfigen", um die tragische Unterwerfung der Helden zu inszenieren, und nicht ein einziger Reporter zitierte das alte jiddische Sprichwort: "Meschiggener, herub fun Dach!" ("Verrückter, komm runter vom Dach!"). Anstelle von Tatsachenberichten wurden wir mit emotionell beladenen Worten überflutet, wie "herzzerreißende Anblicke", "schrecklicher Schmerz", "wundervolle Jugend". (Nur gelegentlich schlüpfte eine wirklich wahre Szene mit ein, wie das mit seiner Mutter betende Kind, das voller Staunen ausrief, als ihm klar wurde, daß die Evakuierung weiterging,: "Mama, es hat nicht geholfen!")

Während all dies weiterging, wo war da die investigative Presse? Warum wurde uns nicht die wirkliche Zahl der Demonstranten mitgeteilt? Wer ist dieser "Yesha-Rat", wer wählte sie, welchen rechtlichen Status hat er, woher kommen die Millionen US-Dollar, die bei dieser Kampagne verschwendet werden? Warum hat keiner nachgeforscht, auf welchem Feld dieses wilden Gräser aufwuchsen, was geschieht in dem autonomen "religiös-staatlichen" Erziehungssystem, das - auf unsere Kosten - diese fanatischen Rowdys produziert?

Und warum hat niemand die Farce dieser sogenannten Stalingrads und Massadas aufgedeckt, deren Helden genau wußten, daß niemand Tränengas oder Schlagstöcke gegen sie einsetzen würde und daß alle Verhafteten am nächsten Tag freigelassen werden?


An den Ministerpräsidenten, Shalom -

Ich entschuldige mich. Ich hatte wirklich nicht geglaubt, daß Sie die ganze Geschichte bis zum Ende durchziehen würden. Doch Sie führten aus, was Sie versprochen hatten und es ist nicht wirklich wichtig, warum - ob Sie keine Alternative mehr hatten oder ob Sie von Ihrem eigenen Schwung mitgerissen oder von den Amerikanern genötigt wurden, dies zu tun.

Ihre wirkliche Prüfung beginnt nämlich gerade erst. Ihre Aktionen während der nächsten Tage werden entscheiden, ob Sie einen ehrenvollen Platz in der Geschichte gewonnen haben oder als ein Tor in Erinnerung bleiben werden.

Ein anderer Premierminister, der britische Staatsmann David Lloyd-George, sprach, während er seinen Abzug aus Irland zu rechtfertigen versuchte, über die Unmöglichkeit, mit zwei Sätzen über einen Abgrund zu springen. Sie befinden sich jetzt genau in dieser Situation. Sie haben mit Ihrem Sprung begonnen. Der Abgrund liegt unter Ihnen. Wenn Sie innehalten, werden Sie hinein fallen.

Wenn Sie nicht schnell mit den Palästinensern zu einem historischen Kompromiß kommen, werden Sie selbst die Realisierung der von Binyamin Netanyahu gemachten Prophezeiung des Verderbens erleben: eine dritte Intifada wird ausbrechen, und der Gaza-Streifen wird zu einer Plattform für Mörser und Qassam-Raketen werden.

Jetzt ist nicht die Zeit, um über die nächsten Wahlen nachzudenken, sich über die Landaus und Netanyahus, über Likud A und Likud B Sorgen zu machen. Jetzt ist die Zeit, den Blick zu heben und die historische Sache zu tun.

Das ist Ihre Prüfung - und nur diese wird entscheiden, ob der Rückzug aus dem Gaza-Streifen nur eine weitere unbedeutende Episode oder eine historischer Tat gewesen ist.

Teure Beschwichtiger -

da sind Sie nun wieder, wie die sprichwörtlichen Pilze nach dem Regen. Sie wollen beschwichtigen, versöhnen, "die Kluft zwischen den Menschen überbrücken".

Es gibt keine Kluft. Im Gegenteil, bei dieser Angelegenheit waren sich die Menschen auf eine eindrucksvolle und sogar erstaunliche Art und Weise einig.

Es gibt keine "Kluft", sondern eine unvermeidliche Konfrontation zwischen der großen Mehrheit der Öffentlichkeit und einer kleinen separatistischen Sekte. Wenn ein Beweis nötig wäre, die Siedler selbst kommen und verlangen abgesonderte Örtlichkeiten in Israel mit abgesonderten Schulen - sogar vom allgemeinen religiös-zionistischen Sektor abgesondert.

Die israelische Öffentlichkeit wünscht fast einstimmig einen Staat, der sich auf das Gesetz gründet, einen demokratischen Staat, in dem die Mehrheit entscheidet und die Rechte der Minderheit respektiert wird. Einen vernünftigen, freien und rationalen Staat. Einen Staat mit Grenzen und einer Verfassung. Einen Staat, der zur fortschrittlichen Menschheit gehört. Einen Staat, der alle Religionen achtet, sich aber keiner Religion unterwirft.

Gegen diesen Staat hat sich eine fanatische Sekte erhoben, eine Sekte, die einen anderen Staat errichten will: einen auf Glauben gegründeten, nationalistischen und rassistischen Staat, der vom göttlichen Gesetz regiert wird, so wie ihre Rabbiner dieses interpretieren. Einen Staat, dessen Ziel es ist, das ganze historische Land Israel zu erobern, seine "fremden" (das heißt arabischen) Bewohner zu vertreiben und es mit Siedlungen zu füllen.

Zwischen diesen beiden Konzepten kann es keinen Kompromiß geben, und es sollte auch keinen falschen geben. Denn der vorgeschlagene Kompromiß geht immer nur in eine Richtung, die Kapitulation des Staates Israel. Das wäre der erste Schritt zur Auflösung der israelischen Demokratie. Die ideologische Unklarheit ist ein Nebelschleier, hinter dem die Kräfte der Zerstörung arbeiten. Es wird das genaue Gegenteil gefordert: ein helles, gnadenlos aufdeckendes Licht, damit jeder Mensch in Israel verstehen wird, um was es bei diesem Kampf geht.

Nicht Beschwichtigung, sondern Mobilisierung für die Verteidigung unserer Demokratie.


Lieber Professor Yeshayahu Leibowitz, Frieden sei Ihrer Seele -

Sie sagten mir einmal daß, als die Anhänger des muslimischen Predigers Muhammad ibn Abd al-Wahab Mekka eroberten, die Zerstörung des Grabes des Propheten Muhammad das erste war, das sie taten. Damit die Gläubigen keine Steine anbeteten. Nun wird behauptet, daß die Zerstörung der Synagogen von Gush Katif, die erst vor wenigen Jahren gebaut wurden, gegen irgendein göttliches Gesetz verstoße.

Mit Ihrer scharfen Zunge hätten Sie, ein orthodoxer Jude, diese Scharlatane zu Asche reduziert - so wie Sie einmal die Klagemauer eine "religiöse Diskothek" genannt haben.

Wir vermissen Sie.





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