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Ein großes Wunder

Hoffnungsträger Amir Peretz

13.11.2005  


Uri Avnery
Übersetzung Ellen Rohlfs




Nordafrikanische Einwanderer in den Außenbezirken französischer Städte setzen diese in Brand. Nordafrikanische Einwanderer in den Außenbezirken Israels führten in dieser Woche eine demokratische Revolution in unserem Land durch.

In den Vorwahlen der Arbeiterpartei stimmten die Mitglieder "östlicher" Herkunft massiv für Amir Peretz und brachten Shimon Peres, der sich der Unterstützung der Oberklasse, meist Ashkenazi-Parteimitglieder, erfreute, eine Niederlage bei.

("Östlich" ist jetzt die allgemein akzeptierte Bezeichnung für Juden aus arabischen und anderen muslimischen Ländern und deren Nachkommen, die irrtümlicherweise "Sephardim" ["aus Spanien"] genannt wurden. Die "Ashkenazim" sind Einwanderer aus europäischen Ländern und ihre Nachkommen - benannt nach der hebräischen Bezeichnung für Deutschland im Mittelalter.)

Vor einer Woche rief diese Kolumne die Wähler der Arbeiterpartei auf, Peretz zu wählen. "Haaretz" veröffentlichte diesen Artikel am Wahltag. Falls er auch nur eine Person davon überzeugt haben sollte, die Wahlstimme zu ändern, wäre ich froh. Weil die Wahl von Peretz - meiner Ansicht nach - ein Ereignis ist, das weit über Parteiangelegenheiten hinausgeht. Es könnte die Zukunft des Landes ändern.

Ich ERINNERE mich an eine Diskussion, die kurz nach dem Libanonkrieg von 1982 stattfand. Einige Dutzend Veteranen der radikalen israelischen Friedensbewegungen hatten sich auf dem Dach eines Tel Aviver Hauses versammelt und die Möglichkeit diskutiert, eine neue Friedenspartei zu gründen, nachdem sich die Scheli-Partei, die ich eine Zeitlang in der Knesset vertrat) aufgelöst hatte.

Ich sagte, es werde uns nicht gelingen, einen wirklichen Wechsel zu bewirken, wenn wir nicht die östliche jüdische Öffentlichkeit erreichten. In dieser Gemeinschaft sieht das Friedenslager wie eine aschkenasische Angelegenheit aus, die zur oberen sozio-ökonomischen Schicht gehört. In unseren Demonstrationen könne man kaum ein "östliches" Gesicht sehen. Wir hätten versagt, die Hälfte der israelischen Bevölkerung zu erreichen. So lange diese Situation bestehe, kann es keinen Frieden geben.

Seitdem sind 23 Jahre vergangen und die Situation hat sich nicht verändert. Die Massen des östlichen Volksteils haben die ganze israelische "Linke" boykottiert. Sie verabscheuten insbesondere die Arbeitepartei, die in ihren Augen all die schlimmen Dinge vertritt: die Diskriminierung der Städte und Stadtteile, in denen der östliche Volksteil konzentriert ist, die Geringschätzung der sozialen Werte, die Unterstützung einer Wirtschaftspolitik, die die Reichen immer reicher macht. Sie haben eine besondere Verachtung für "ethnische Politiker", und betrachten sie als Söldner der Elite der Ashkenazi.

Das Friedenslager wird mit der "Linken" identifiziert. Wenn sich einmal im Jahr Hunderttausende auf Tel Avivs Rabin-Platz versammeln - wie heute Abend - um des ermordeten Yitzhak Rabin zu gedenken, glänzen die Östlichen durch ihre Abwesenheit (abgesehen von Mitgliedern linker Jugendorganisationen). Oft gehörte Argumente sind: "Ihr kümmert euch nur um die Araber, nicht um uns" oder "Ramallah ist für euch wichtiger als Ramleh" (Ramleh ist eine israelische Stadt, die vor allem von nordafrikanischen Einwanderern bevölkert ist). Die ganze Idee des Friedens wird irgendwie als elitäre ashkenasische Sache betrachtet, die nicht die Bewohner der östlichen Ortschaften betrifft.

Es gibt verschiedene Gründe für den tiefsitzenden Haß vieler Östlicher sogar der zweiten und dritten Generation gegenüber der Arbeiterpartei. Einer dieser Gründe ist das Gefühl, daß die nordafrikanischen Einwanderer in den Fünfzigerjahren in Israel vom Establishment, das damals ganz zur Arbeiterpartei gehörte, mit Verachtung empfangen wurden. Von den Einwanderern wurde erwartet, daß sie im israelischen "Schmelztiegel", der ein westlich säkulares Muster forderte, ihr kulturelles Erbe und ihre Traditionen aufgeben sollten.

Von Generation zu Generation wurde eine (wahre) Geschichte weitergegeben: marokkanische Einwanderer wurden an einen Ort mitten in der Wüste gefahren und ihnen aufgefordert, sich selbst eine neue Stadt zu bauen. Als sie sich weigerten, den Lastwagen zu verlassen, wurde die Hydraulik der Ladefläche in Gang gesetzt und sie wurden buchstäblich "ausgeschüttet", als wären sie eine Ladung Sand. Die Einwanderer fühlten sich auch gedemütigt, als ihnen bei der Ankunft im Land die Haare mit DDT besprüht wurden. Es stimmt, daß dies auch den Einwanderern aus europäischen Flüchtlingslagern geschah, aber im Gedächtnis der östlichen Einwanderer hat diese Demütigung eine tiefe Narbe hinterlassen.

Die Östlichen der zweiten und dritten Generation glaubten, daß die "Linke" eine abgeschlossene Welt geschaffen hatte, deren Tore für sie geschlossen waren. Das Gefühl verschwand auch nicht, als einzelne hohe Positionen erreichten, ins Büro des Staatspräsidenten kamen, Kabinettsminister, Professoren oder erfolgreiche Unternehmer wurden. Statistiken zeigen, daß die meisten Östlichen in den unteren sozio-ökonomischen Schichten zu finden sind, daß viele von ihnen unterhalb der Armutsgrenze leben und daß sie in den Gefängnissen übermäßig vertreten sind. Deshalb stimmten sie en masse für den Likud, der auch lange Zeit außerhalb des Establishments war. Sogar heute noch wird der Likud als eine Oppositionspartei angesehen - trotz der Tatsache, daß er schon eine lange Zeit an der Macht gewesen ist.

ES GIBT natürlich noch tiefere Gründe für die Spannung zwischen dem östlichen Volksteil und dem Friedenslager. Die meisten Immigranten aus den arabischen Ländern kamen nicht als Araberhasser hierher - sie wurden erst hier zu Araberhassern.

Es ist in vielen Ländern ein wohlbekanntes Phänomen: aus der diskriminiertesten Klasse einer herrschenden Nation kommen im allgemeinen die radikalsten Feinde der nationalen Minderheiten und Ausländer. Die Getretenen treten auf die unter ihnen. Nachdem sie ihrer Selbstachtung beraubt wurden, können sie etwas Selbstachtung nur dadurch wiedergewinnen, daß sie zu einer "Herrenrasse" gehören. So wie die armen Weißen in den USA. Dasselbe in Frankreich.

Außerdem verachtet die ashkenasische herrschende Klasse offen die arabischen Umgangsformen, Sprache und Musik, die die "östlichen" Einwanderer mit sich brachten. Die offen rassistische Haltung gegenüber den Arabern wurde zu einer verdeckten rassistischen Haltung gegenüber den östlichen Juden. Diese reagierten ihrerseits defensiv, indem sie eine extrem anti-arabische Haltung einnahmen.

Bei der Diskussion vor 23 Jahren sagte ich, keiner von uns Ashkenazis könne die notwendige Änderung hervorrufen. Nur ein authentisch östlicher Führer kann den östlichen Volksteil mit einem neuen Geist durchdringen. Er kann sie daran erinnern, daß seit 1.400 Jahren, während die europäischen Juden Pogrome, die Inquisition und den Holocaust erlebten, die Juden in muslimischen Ländern nicht verfolgt wurden, ja, für lange Perioden in Spanien und anderswo als Partner in einer wunderbaren muslimisch-jüdischen Symbiose lebten. Solch ein Führer kann seiner Gemeinde den Stolz auf ihre Vergangenheit zurückgeben und den Ehrgeiz, ihre natürliche Mission als Brücke zwischen den beiden Völkern auszuüben.

Das ist in den vergangenen Jahren nicht passiert. Es könnte jetzt geschehen.

DIE WAHL von Amir Peretz verändert die politische Szene vollkommen. Das erste Mal steht der Arbeiterpartei ein echter Vertreter der nordafrikanischen Gemeinde vor - kein "ethnischer" Politiker, sondern ein nationaler Führer, der stolz auf seine Wurzeln ist. Und tatsächlich verkündete er vor der Wahl: "Das erste, das ich, wenn ich gewählt werde, tun werde, ist, dem ethnischen Dämon Sterbehilfe zukommen zu lassen."

Es ist das erste Mal seit 1974, daß die Arbeiterpartei nicht von einer Person angeführt wird, die die Armee oder das Verteidigungsestablishment durchlaufen hat. Seine Hauptagenda ist die Sozialökonomie. Er wird der anormalen Situation ein Ende setzen, die in Israel eine lange Zeit bestanden hat, als die Führer der "Linken" eine extrem rechte Wirtschaftspolitik unterstützten. Er kann die Situation beenden, daß das riesige Verteidigungsbudget zusammen mit massiven Investitionen in die Siedlungen, die notwendigen Ressourcen verschlingt, um die Kluft zwischen den Reichen und den Armen zu verringern, die in Israel weiter ist als in jedem anderen entwickelten Land.

Seit Beginn seiner Karriere ist Peretz niemals von seiner konsequenten Unterstützung des israelisch-palästinensischen Friedens abgewichen. Seine soziale Botschaft ist mit der Friedensbotschaft verknüpft, so wie es sein sollte.

Doch gibt es noch keinen Grund, vor Freude auf der Straße zu tanzen. Wir könnten enttäuscht werden. Peretz sieht sich einer beängstigenden Reihe von Aufgaben gegenüber: die Partei zu einigen, das Peres-Erbe zu beseitigen, der Partei neues Blut zuzuführen, die nächsten allgemeinen Wahlen zu gewinnen, Premierminister zu werden, eine soziale Änderung in Gang zu bringen, Frieden zu machen. Er muß sich nun selbst in all dem beweisen, in einer Phase nach der anderen.

Aber es gibt Raum für Optimismus. Die verfestigten Fronten zwischen den Parteien sind aufgebrochen. Es ist der Beginn einer Peretztroika. Ganze Gemeinden können nun ihre Loyalität verändern. Eine neue politische Szene kann geschaffen werden - eine die viel mehr zum Friedenmachen geeignet ist.

In Frankreich gehen die diskriminierten nordafrikanischen Stadtteile in Flammen auf. In unserem Land ist ein Mitglied der diskriminierten nordafrikanischen Gemeinde ein Kandidat für das Amt des Premierministers geworden. Sechs Wochen vor Hanuka, dem jüdischen Fest mit dem uralten Spruch: "Ein großes Wunder ist hier geschehen", haben wir einigen Grund, um froh zu sein.





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