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Ein Napoleon, "Made in Israel"

Die Zukunft Israels

08.01.2006  


Uri Avnery
Übersetzung Ellen Rohlfs




Von früher Jugend an war er davon überzeugt, die einzige Person in der Welt zu sein, die den Staat Israel retten könnte. Das war absolut sicher, ohne jeden Zweifel. Er wußte einfach, er müsse äußerste Macht erlangen, um die Mission zu erfüllen, die das Schicksal ihm anvertraut hatte.

Dieser Glaube führte zu einer kompletten Integration der persönlichen Egozentrik und der nationalen Egozentrik. Für eine Person, die an solch eine Mission glaubt, gibt es keinen Unterschied zwischen persönlichem und nationalem Interesse. Was für ihn gut ist, wird automatisch gut für die Nation und umgekehrt. Das bedeutet, daß jeder, der ihn daran hindert, an die Macht zu kommen, wirklich ein Verbrechen gegen den Staat begeht. Und jeder, der ihm zur Macht verhilft, wirklich eine patriotische Tat begeht.

Diese Überzeugung lenkte jahrzehntelang seine Aktionen. Sie erklärt die hartnäckige Entschlossenheit, die Zähigkeit, die unbeugsame Beharrlichkeit, die sein Markenzeichen wurde und ihm den Spitznamen "die Planierraupe" einbrachte. Dies zog Bewunderer an, die vollkommen unter seinen Einfluß gerieten.

Es erklärt auch seine Haltung in Geldangelegenheiten. Man sagte über ihn, daß "er nicht bei rot halte", daß "Gesetze für ihn nicht gelten". Mehr als einmal wurde er beschuldigt, Millionen von reichen Juden im Ausland angenommen zu haben. Am Tag vor seinem schicksalhaften Schlaganfall wurde bekannt, daß die Polizei ihn beschuldigte, ein Bestechungsgeld in Höhe von drei Millionen Dollar von einem Kasino-Besitzer angenommen zu haben. (Es ist durchaus möglich, daß dies seinen Blutdruck erhöhte und den schweren Schlaganfall auslöste.) Aber nicht alle diese Millionäre erwarteten eine Gegenleistung. Einige von ihnen glaubten, wie er selbst, daß durch seine Unterstützung der Staat Israel unterstützt werde. Kann es eine heiligere Pflicht geben, als den israelischen Napoleon mit einem abgesicherten Einkommen auszustatten, damit er sich mit ganzer Energie der Erfüllung seiner historischen Aufgabe widmen kann?

Auf seinem langen Weg hat Sharon solche Hindernisse leicht überwunden. Sie brachten ihn nicht von seinem Kurs ab. Persönliche Tragödien und politische Niederlagen haben ihn nicht einen Augenblick aufgehalten. Die Unfälle, die seine erste Frau und seinen ältesten Sohn töteten, seine Entlassung aus dem Amt, nachdem er von einem Untersuchungsausschuß der "indirekten Verantwortung" für die Massaker von Sabra und Shatila verurteilt wurde, als auch die vielen anderen Rückschläge, Fehlschläge und Enttäuschungen, die ihm während all der Jahre widerfuhren, schreckten ihn nicht ab. Sie lenkten ihn nicht einen Augenblick von seinen Bemühungen ab, die höchste Macht zu erlangen.

Und nun wurde es alles Wirklichkeit. Am Mittwoch, dem 4. Januar 2006 konnte er sicher sein, daß er in drei Monaten der alleinherrschende Führer Israels werden würde. Er hatte eine Partei geschaffen, die ihm allein gehörte, die dabei war, nicht nur eine zentrale Position in der nächsten Knesset einzunehmen, sondern auch alle anderen Parteien in Stücke zu reißen.

Er war entschlossen, seine Macht zu gebrauchen, um das ganze politische System Israels umzuwerfen und ein Präsidialsystem einzuführem, das ihm eine allmächtige Position geben würde, so wie Juan Peron auf dem Höhepunkt seiner Macht in Argentinien. Dann endlich würde er in der Lage sein, seine historische Mission zu erfüllen, um für die nächsten Generationen in Israel die Weichen zu stellen, so wie es David Ben-Gurion vor ihm getan hatte.

Und da, gerade, als es schien, ihn könne nichts mehr aufhalten, hat ihn mit grausamer Plötzlichkeit sein Körper im Stich gelassen.

Was geschah, ähnelt einem zentralen Motiv der jüdischen Mythen: das Schicksal des Moses, den Gott für seinen Stolz strafte, indem er ihm erlaubte, von weitem einen Blick auf das Gelobte Land zu werfen, ihn aber sterben ließ, bevor er einen Fuß auf seinen Boden setzen konnte. An der Schwelle zur absoluten Macht bekam Ariel Sharon einen Schlaganfall.

Während er im Krankenhaus noch um sein Leben rang, begann sich schon der Mythos von "Sharons Vermächtnis" aufzubauen.

So wie es vielen Führern ergangen ist, die kein schriftliches Testament hinterließen, kann sich nun jeder einen Sharon frei auf seine Weise vorstellen. Die Linken, die noch gestern Sharon als den Mörder von Kibiya, den Schlächter von Sabra und Shatila verfluchten und als den Mann, der für den Raub und das Gemetzel in den besetzten Gebieten verantwortlich ist, begannen, ihn als den "Mann des Friedens" zu bewundern. Siedler, die ihn als Verräter verurteilt hatten, erinnerten sich daran, daß er es war, der die Siedlungen schuf und sie bis auf den heutigen Tag erweitern ließ.

Erst gestern war er einer der meistgehaßten Menschen in Israel und der Welt. Heute, nach der Evakuierung von Gush Kativ, ist er zum Liebling der Öffentlichkeit geworden, fast von Mauer zu Mauer. Die Führer der Nationen erhoben ihn zum "großen Krieger, der ein Held des Friedens wurde".

Jeder stimmt darin überein, daß sich Sharon völlig verändert habe, daß er von einem Extrem ins andere geraten sei; der sprichwörtliche Äthiopier, der seine Hautfarbe, der Leopard, der seine Flecken veränderte.

All diese Analysen haben nur eines gemeinsam: sie haben nichts mit dem wirklichen Ariel Sharon zu tun. Sie gründen sich auf Ignoranz, Illusion und Selbsttäuschung.

Ein Blick auf seine lange Karriere (unterstützt durch meine eigene Erfahrung) zeigt, daß er sich nicht im geringsten verändert hat. Er blieb seinem Grundkonzept treu, glich nur seine Slogans veränderten Zeiten und Umständen an. Sein Gesamtplan blieb das, was er von Anfang an war.

Seinem Konzept lag ein primitiver Nationalismus des 19. Jahrhunderts zugrunde, der besagt: unser Volk steht über allen anderen, andere Völker sind minderwertig. Die Rechte unseres Volkes sind heilig, andere Nationen haben überhaupt keine Rechte. Die Regeln der Moral gelten nur innerhalb der Nation, nicht für die Beziehungen zwischen Nationen.

Diese Überzeugung hat er mit der Muttermilch eingesogen. Sie herrschte in Kfar Malal, dem genossenschaftlichen Ort, in dem er geboren wurde, wie sie zu jener Zeit auch in der ganzen Welt herrschte. Unter Juden wurde sie besonders durch die Schrecken des Holocaust verstärkt. Der Slogan "alle Welt ist gegen uns" ist tief in der nationalen Seele verankert und gilt jetzt insbesondere gegenüber Arabern.

Aus dieser moralischen Grundansicht baute sich das Ziel auf, den jüdischen Staat so groß wie möglich zu bauen frei von Nicht-Juden. Das konnte zu dem Schluß führen, daß die ethnische Säuberung, die von Ben-Gurion 1948 begonnen wurde, als die Hälfte der Palästinenser ihr Heim und ihre Heimat verloren, vollendet werden müsse. Sharons Karriere begann kurz danach, als er zum Kommandeur der Undercover-Einheit 101 ernannt wurde, deren mörderische Aktionen jenseits der Grenze dazu bestimmt waren, zu verhindern, daß Flüchtlinge in ihre Dörfer zurückkehrten.

Trotzdem kam Sharon ziemlich bald zu der Überzeugung, daß eine weitere ethnische Säuberung in näherer Zukunft nicht möglich sei (abgesehen von einigen nicht voraussehbaren internationalen Geschehnissen, die die Lage im Ganzen verändern würden).

Aus Mangel an einer solchen Möglichkeit glaubte Sharon, daß Israel alle Gebiete ohne dichte palästinensische Bevölkerung zwischen dem Mittelmeer und dem Jordan annektieren müsse. Schon vor Jahrzehnten bereitete er eine Landkarte vor, die er stolz lokalen und ausländischen Persönlichkeiten zeigte, um sie von seinen Ansichten zu überzeugen.

Nach dieser Karte wird Israel die Gebiete entlang der 1967er Grenze annektieren und das Jordantal bis zum "Rücken der Bergkette" (ein bei Sharon besonders beliebter Ausdruck). Es wird auch mehrere West-Ost-Landstreifen annektieren, um das Jordantal mit der Grünen Linie zu verbinden. In diesen Gebieten, die zur Annektierung bestimmt sind, schuf Sharon ein dichtes Netz von Siedlungen. Das waren seine Hauptbemühungen während der letzten dreißig Jahre in seinen verschiedenen Positionen - als Minister für Landwirtschaft, Minister für Industrie und Handel, Verteidigungsminister, als Wohnungsbauminister, Außenminister, Minister für Infrastruktur und als Premierminister - und diese Arbeit geht bis zu diesem Augenblick weiter.

Die Gebiete mit dichter palästinensischer Bevölkerung beabsichtigte Sharon, der palästinensischen Selbstverwaltung zu übergeben. Er war entschlossen, alle Siedlungen aus diesen zu entfernen, die dort unüberlegt errichtet worden waren. Auf diese Weise wären acht oder neun palästinensische Enklaven entstanden, die von einander getrennt und von Siedlern und israelischen Armee-Einrichtungen umgeben wären. Es wäre ihm gleichgültig gewesen, ob diese "Palästinensischer Staat" genannt würden. Die kürzliche Verwendung dieser Bezeichnung ist ein Beispiel seiner Fähigkeit, sich nach außen hin und verbal veränderten Situationen anzupassen.

Der Gaza-Streifen ist eine dieser Enklaven. Das ist die wirkliche Bedeutung der Auflösung der Siedlungen und des Rückzuges der israelischen Armee. Es ist das erste Stadium der Verwirklichung der Karte: dieses kleine Gebiet mit einer dichten palästinensischen Bevölkerung von eineinviertel Millionen wurde den Palästinensern übergeben. Die israelischen Land- See- und Luftstreitkräfte umzingeln den Streifen fast vollständig. Die pure Existenz seiner Bewohner hängt zu allen Zeiten von der Gnade Israels ab, das alle Ein- und Ausgänge kontrolliert (außer dem Rafah-Übergang nach Ägypten, der von Israel fernkontrolliert wird.) Israel kann die Wasser- und Stromzufuhr jeden Augenblick sperren. Sharon beabsichtigte, dieselbe Situation in Hebron, Ramallah, Nablus, Jenin und den anderen Gebieten zu schaffen.

Ist das ein "Friedensplan"?

Frieden wird zwischen Nationen gemacht, die darin übereinstimmen, eine Situation zu schaffen, in der alle in Freiheit, Wohlergehen und gegenseitiger Achtung leben können und glauben, daß dies für alle gut sei. Das ist nicht, was Sharon im Sinn hatte. Als Mann des Militärs kennt er nur den Waffenstillstand. Wenn ihm Frieden auf einem Silbertablett angeboten worden wäre, hätte er ihn nicht erkannt.

Er wußte nur zu genau, daß kein palästinensischer Führer mit seiner Karte einverstanden sein könnte - weder jetzt noch später. Deshalb beabsichtigte er nicht, irgendwelche politischen Verhandlungen mit den Palästinensern zu führen. Sein Slogan war: "Wir haben keinen Partner." Er beabsichtigte, all die verschiedenen Stadien seines Planes "einseitig" zu realisieren, so wie er es in Gaza tat - ohne Dialog mit den Palästinensern, ohne Rücksicht auf ihre Forderungen und Hoffnungen und natürlich ohne ihre Zustimmung.

Aber Sharon wollte wirklich Frieden machen - Frieden mit den Vereinigten Staaten. Für ihn war die amerikanische Zustimmung wichtig. Er wußte, daß Washington nicht mit seinem ganzen Plan einverstanden sein konnte. Deshalb wollte er ihr Einverständnis Schritt für Schritt einholen. Da sich Präsident Bush ihm ganz unterworfen hat und keiner weiß, wer ihm folgen wird, wollte Sharon den Hauptteil seines Planes innerhalb der nächsten zwei bis drei Jahre, vor dem Ende von Bushs Amtszeit, durchgezogen haben. Das ist einer der Gründe für seine Eile. Er mußte jetzt sofort zu absoluter Macht kommen. Nur der Schlaganfall verhinderte dies.

Der Eifer, mit dem so viele gute Leute der Linken das "Sharon-Vermächtnis" aufnahmen, zeigt nicht ihr Verständnis seiner Pläne, sondern eher ihre eigene Sehnsucht nach Frieden. Sie verlangen mit all ihren Fasern nach einem starken Führer, der den Willen und die Fähigkeit hat, den Konflikt zu beenden.

Die Zielstrebigkeit, mit der Sharon die Siedler aus Gush Kativ evakuierte, erfüllte die Linken mit Begeisterung. Wer hätte geglaubt, daß es einen Führer gäbe, der in der Lage ist, dies ohne Bürgerkrieg, ohne Blutvergießen auszuführen? Und wenn dies im Gaza-Streifen geschehen ist, warum kann dies dann nicht auch in der West Bank geschehen? Sharon wird die Siedler hinaustreiben und Frieden schließen. All dies, ohne daß die Linke einen Finger rühren muß. Der Retter wird wie ein deus ex machina hervorspringen. Ein hebräisches Sprichwort besagt: "Die Arbeit des Gerechten wird von anderen getan", die womöglich alles andere als gerecht sind.

Sharon hat sich leicht diesem Verlangen der Öffentlichkeit angepaßt. Er hat seinen Plan nicht verändert, ihm aber einen neuen Anstrich gegeben, im Geiste der Zeit. Von jetzt an erschien er als "der Mann des Friedens". Er kümmerte sich nie darum, welche Maske gerade zu tragen passend war. Aber diese Maske spiegelt die tiefsten Wünsche der Mehrheit des israelischen Volkes wider.

Von diesem Gesichtspunkt aus kann das imaginäre "Sharon-Vermächtnis" eine positive Rolle spielen. Als er seine neue Partei gründete, nahm er eine Menge Likudleute mit, jene, die zu dem Schluß gekommen waren, daß das Ziel, "das ganze Erez Israel" zu erlangen, unmöglich sei. Viele von ihnen werden in der Kadima-Partei bleiben, auch nachdem Sharon die politische Bühne verlassen hat. Als Teil eines weitergehenden, langsamen, unterirdischen Prozesses sind auch die Likudleute bereit, die Teilung des Landes zu akzeptieren. Das ganze System bewegt sich langsam in Richtung Frieden.

Das "Sharon-Vermächtnis", selbst wenn es nur eine Einbildung ist, könnte zum Segen werden, wenn Sharon darin in seiner letzten Inkarnation erscheint: Sharon als derjenige, der die Siedlungen auflöste; als Sharon, der bereit war, Teile von Erez Israel aufzugeben, Sharon, der mit einem Palästinensischen Staat einverstanden ist.

Dies war zwar nicht Sharons Absicht. Aber wie Sharon vielleicht selbst gesagt haben könnte: Es sind nicht die Absichten, die von Bedeutung sind, sondern die tatsächlichen Ergebnisse.





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