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Bemitleidet die Waise

Unerwünschte Verhandlungen mit Palästina

23.01.2006  


Uri Avnery
Übersetzung Ellen Rohlfs




Es war ein farbenprächtiger Tag in Bil’in. In vielen Farben flatterten politische Fahnen im frischen Wind, die leuchtenden Wahlposter und die bunten Graffiti an den Mauern taten ihr übriges. Es war seit langer Zeit die größte Demonstration in dem belagerten Dorf. In dieser Woche war der Protest gegen den Zaun mit palästinensischen Wahlkampagnen verquickt.

Glücklich marschierte ich bei sonnigem Winterwetter und hielt das Gush-Shalom-Emblem hoch, das die israelische und die palästinensische Flagge nebeneinander zeigt. Als wir uns der Linie der auf uns wartenden und bewaffneten Soldaten näherten, wurde mir auf einmal bewußt, daß ich von grünen Hamas-Flaggen umgeben war.

Gewöhnliche Israelis hätte es wohl umgehauen. Was, die mörderischen Terroristen marschierten in einer Linie mit israelischen Friedensaktivisten? Israelis marschierten, redeten und scherzten mit potentiellen Selbstmordattentätern? Unmöglich!

Aber es war ziemlich normal. Alle palästinensischen Parteien nahmen an der Demonstration teil, zusammen mit israelischen und internationalen Aktivisten. Zusammen rannten sie vor den Tränengaswolken weg, brachen zusammen durch die Linien der Soldaten, wurden gemeinsam zusammengeschlagen. Die grünen Fahnen von Hamas, die gelben von Fatah, die roten der Demokratischen Front und das Blau-weiße der israelischen Flagge auf unserm Emblem harmonierten miteinander - wie die Leute, die sie trugen.

Am Ende improvisierten viele von uns eine Art Protest-Konzert. Am eisernen Sicherheitsgitter entlang standen Israelis und Palästinenser zusammen, wir schlugen rhythmisch mit Steinen darauf und produzierten etwas wie ein afrikanisches Trommeln, das noch meilenweit gehört werden konnte. Die orthodoxen Siedler im nahen Modiin-Illit müssen sich gefragt haben, was es zu bedeuten hatte.

Die Teilnahme aller palästinensischen Parteien war an sich schon ein bedeutendes Phänomen. Es war zweifellos durch die palästinensischen Wahlen ermutigt worden, die am kommenden Mittwoch stattfinden. Es war seltsam, dieselben Gesichter auf Postern entlang unseres Weges zu sehen und gleichzeitig als Gesichter von Lebenden unter uns in der Menge.

Es zeigte aber auch, welche Bedeutung dieser Zaun in den Augen der Palästinenser erlangt hat.

Vor Jahren, als der Bau des zur Mauer gewordenen Zauns gerade begonnen hatte, besuchte ich Yassir Arafat, um ihm einen gemeinsamen Kampf dagegen vorzuschlagen. Ich hatte den Eindruck, daß der Gedanke, die Mauer könne eine ernsthafte Gefahr sein, für ihn ziemlich neu war - das palästinensische Establishment hatte noch nicht seine Bedeutung begriffen. Nun steht sie ganz oben auf der nationalen Agenda.

In der vergangenen Woche, am Vorabend zu den Wahlen, bei denen erwartet wird, Hamas werde einen bedeutenden Anteil der Stimmen erhalten, ist das Bild von Hamas-Aktivisten, die Seite an Seite mit israelischen Friedensaktivisten marschieren, sehr wichtig. Denn bald wird Hamas im palästinensischen Parlament vertreten sein und vielleicht auch in der Regierung.

Condoleezza Rice kritisierte wegen der Teilnahme von "Terroristen" die Wahlen scharf und wiederholte so die Erklärung ihrer neuen israelischen Kollegin Tsipi Livni, die erklärte, das es keine "demokratischen Wahlen" wegen der Teilnahme von Hamas seien.

Es stellt sich nun heraus, daß dies ein neuer Vorwand für unsere Regierung ist, nicht mit der gewählten palästinensischen Führung zu verhandeln. Die Vorwände wechseln häufig, aber der Zweck bleibt derselbe.

Zunächst wurde behauptet, Israel würde nicht verhandeln, bevor der neue Präsident Mahmoud Abbas die "terroristische Infrastruktur" nicht aufgelöst hätte. Das war tatsächlich gemäß dem Friedensfahrplan eine Verpflichtung - aber es war auch die von ihm vollständig ignorierte Verpflichtung Ariel Sharons, gleichzeitig die etwa hundert Siedlungen, die errichtet worden waren, seit er an die Macht gekommen war, zu entfernen.

Dann kam die Behauptung, die Palästinensische Behörde sei in einem Zustand der Anarchie. Wie kann man mit einer Anarchie verhandeln?

Und nun kommt die Behauptung, man könne von Israel unmöglich erwarten, mit einer palästinensischen Führung zu verhandeln, die Hamas einschließt, eine Organisation, die so viele Selbstmordanschläge ausgeführt hat und zumindest offiziell die Existenz Israels nicht anerkennt.

Die Vorwände sind mannigfaltig, und es können wenn nötig noch mehr erfunden werden. (Das erinnert mich an meinen verstorbenen Freund Natan Yellin-Mor, früherer Führer der "Stern-Bande" - eine jüdische terroristische Untergrundorganisation von vor 1948 - und späterer Friedensaktivist, der sagte: "Ich wünschte, Gott würde mir so viele Versuchungen in den Weg legen, wie ich Vorwände hätte, ihnen nachzugeben.")

Hamas’ Präsenz in der nächsten palästinensischen Regierung ist kein Grund, Friedensverhandlungen zurückzuweisen. Ganz im Gegenteil. Es wäre ein zwingender Grund, endlich mit ihnen zu beginnen. Das würde heißen, dass wir mit dem ganzen palästinensischen Spektrum (außer der kleinen Islamischer Jihad-Organisation) verhandeln würden. Falls Hamas sich der Regierung auf der Basis von Mahmoud Abbas’ Friedenspolitik anschließen würde, dann ist sie offenkundig reif für Verhandlungen - mit oder ohne Waffen - auf der Basis eines Waffenstillstandes (Hudnah).

Als ich vor dreißig Jahren geheime Kontakte mit der PLO-Führung begann, war ich fast die einzige Person in Israel, die dafür war, mit der Organisation zu verhandeln, die damals offiziell als "terroristisch" bezeichnet wurde. Es dauerte fast 20 Jahre, bis die israelische Regierung meine Ansicht annahm. Nun beginnt dieses Spiel von vorne.

Warum weigern sich palästinensische Organisationen, ihre Waffen abzugeben? Täuschen wir uns nicht: für die meisten Palästinenser sind diese Waffen eine Art strategische Reserve. Wenn Verhandlungen mit Israel zu nichts führen, wird der bewaffnete Kampf wahrscheinlich wieder aufgenommen. Das wäre nicht das erste Mal. (Siehe zum Beispiel Irland.)

Selbst wenn Mahmoud Abbas Hamas entwaffnen wollte, könnte er es nicht. Seine schwache Position, verbunden mit der Schwäche seiner Fatah-Bewegung, machen solche Maßnahmen unmöglich.

Diese Schwäche, die auch in der Fawda ("Anarchie") ihren Ausdruck findet, hat vor allem eine Ursache: die verschlagenen Bemühungen Sharons, seine Position zu untergraben.

Ich habe darauf mehr als einmal hingewiesen: für Sharon stellte Abbas’ Aufstieg eine ernsthafte Gefahr dar. Von Präsident Bush als ein Beispiel seines Erfolges hingestellt, Demokratie und Frieden in den Nahen Osten zu bringen, bedrohte er die exklusive Beziehung zwischen den USA und Israel, womöglich eröffnete dies sogar den Weg für amerikanischen Druck auf Israel.

Um dies zu verhindern, verweigerte Sharon Abbas selbst die geringsten politischen Konzessionen, wie die Entlassung von Gefangenen (Marwan Barghouti kommt einem sofort in den Sinn), eine Veränderung des Mauerverlaufs, das Einfrieren des Siedlungsbaus, den Rückzug aus dem Gaza-Streifen in Abstimmung mit Abbas und so weiter. Diese Kampagne war erfolgreich. Die Autorität Abbas' wurde bedeutend geschwächt.

Nun nützen Sharons Nachfolger genau diese Schwäche als Vorwand aus, um ernsthafte Verhandlungen mit ihm und der nächsten palästinensischen Regierung zurückzuweisen, was einen an die Geschichte von dem Jungen erinnert, der seine Eltern umgebracht hatte und bei Gericht um Gnade flehte: "Haben Sie doch Mitleid mit einer armen Waise!".





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