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Nachrichten, die man nicht überall findet.





300 Küsse

Gute und schlechte Nachrichten aus Israel

09.05.2006  


Uri Avnery
Übersetzung Ellen Rohlfs




Sollen wir mit den guten oder den schlechten Nachrichten beginnen? Als unverbesserliche Optimisten lassen Sie uns mit den guten beginnen.

Um ein altes hebräisches Sprichwort etwas verändert wiederzugeben: "Schaut nicht das Gefäß an, sondern das, was nicht darin ist." Avigdor Lieberman ist nicht in der israelischen Regierung.

Er gab sich große Mühe, an Bord des Schiffes zu gelangen. Er setzte eine fast liberale Maske auf und aß saftigen Hering zusammen mit Yossi Beilin, der ihn eine nette Person nannte. Nach den Wahlen erwähnte Amir Peretz nicht mehr das Gelöbnis der Arbeitspartei, nicht neben Lieberman im Kabinett sitzen zu wollen. Es schien, als ob es dem brutalen Rassisten gelänge, Legitimität für seine faschistischen Ansichten zu erlangen.

Aber der brutale Wolf hatte nicht mit der Schläue des Fuchses gerechnet. Ehud Olmert wickelte den rohen Hochstapler um seinen kleinen Finger. Im letzten Augenblick wurde Lieberman am Ufer gelassen, der mit sehnsuchtsvollen Augen dem Schiff nachsah, das mit lustig flatternden Fahnen ohne ihn davonsegelte.

Wütend warf er seine liebenswürdige Maske weg und verlangte bei einer Rede in der Knesset die Hinrichtung der arabischen Abgeordneten, die sich mit Mitgliedern der palästinensischen Regierung getroffen hatten. Danach wird sogar Beilin nicht mehr mit ihm frühstücken.

Die zweite gute Nachricht ist, daß Shaul Mofaz aus dem Verteidigungsministerium entfernt wurde. Dieser primitive Mensch, der König der "gezielten Tötungen", ist vom hohen Turm der Verteidigung in den leeren Brunnen des Verkehrsministeriums geworfen worden. Man kann sich über die Karikatur freuen, die Mofaz zeigt, wie er mit einem Panzer durch Tel Avivs Straßen fährt.

Die Freude mischt sich mit tiefen Ängsten. Es ist schwierig, sich an die Benennung des "Verteidigungsministers Amir Peretz" zu gewöhnen. Nur wenige Stunden vor der Vereidigung in der Knesset töteten Soldaten einen unschuldigen palästinensischen Taxifahrer durch Schüsse in den Rücken. Am Tag zuvor wurde „versehentlich“ eine palästinensische Frau in ihrer Wohnung erschossen. Von jetzt an wird Peretz die Verantwortung für solche Akte tragen, die zu einer täglichen Routine der Besatzung geworden sind. Er hat sich selbst in eine fast unmögliche Situation gebracht. Die nächste Demonstration, die wir abhalten werden, wird wahrscheinlich gegen ihn sein müssen.

Die dritte gute Nachricht ist, daß dies eine zivile Regierung ist. Die vier Schlüsselfiguren (Premierminister, Verteidigungsminister, Finanzminister und Außenminister) sind Zivilisten. Zweifellos ein Zeichen von Reife.

Unter den 25 Kabinettsministern sind "nur" zwei Generäle (Mofaz, Binyamin Ben-Eliezer), beide in rangniederen Positionen. Sogar die Zahl der Shin-Bet-Offiziere im Kabinett ist größer (Gideon Ezra, Avi Dichter, Raffi Eytan) als das. Doch freuen wir uns nicht zu früh: eine zivile Regierung kann von der Macht der Generäle eingeschüchtert werden und sich gedrängt fühlen, ihre militärische Tüchtigkeit zu beweisen (wie in dem Lied: "Anything you can do, I can do better" ("Alles was du kannst, ich kann es besser") ...) Werden diese Zivilisten es wagen, gegen den Rat des Generalstabschefs zu handeln, der an jedem Kabinettstreffen teilnimmt und die Politik im Namen der "Sicherheit" diktiert?

In dieser Regierung gibt es keine Löwen. Es ist eine Regierung der Füchse, die vom Führer des Rudels geleitet wird. Mit Ariel Sharon ist die letzte große Gestalt des Krieges von 1948 verschwunden. Die Gegenwart des kläglichen Shimon Peres unterstreicht dies nur. Dies ist eine Regierung von grauen Parteigäulen.

In ihr gibt es zwei eklatante Lücken. Olmert machte seinen ersten großen Fehler, als er in das neue Kabinett kein Mitglied der russischsprechenden Gemeinde einbezog. Eine Million Immigranten aus der früheren Sowjet-Union, viele von ihnen mit fanatischem Rassismus, den sie mit sich brachten, werden nun noch weiter in eine Ecke gedrängt. Das ist eine große Gefahr. Eine schlechte Nachricht.

Eine andere Gemeinschaft von eineinviertel Millionen wird außen vor gelassen: die arabischen Bürger. Wie alle ihre Vorgänger ist diese Regierung, die 31. in den 58 Jahren der Existenz des Staates, eine jüdische Regierung und keine israelische. Sie hat kein einziges arabisches Mitglied. Diese große Gemeinschaft wird also ebenfalls an den Rand gedrängt. Wirklich eine schlechte Nachricht. Alle leeren Worte Olmerts über Gleichheit der Bürger können dies nicht vertuschen.

Was wird also in der Agenda der Olmert-Regierung obenan stehen? Die plausibelste Antwort scheint recht prosaisch zu sein: ihre reine Existenz. Sie ist sich in dem brennenden Wunsche einig, die Amtsperiode von viereinhalb Jahren zu überleben. (Das halbe ist ein Rest der vorangegangenen Regierung.)

Dies wurde am lebhaftesten durch die Kußorgie in der Knesset ausgedrückt, als die neuen Minister vereidigt wurden. Solch ein Ausbruch kindlicher Freude ist eher für Lotteriegewinner als für Minister typisch, die dazu aufgerufen sind, sich mit schicksalsschweren Problemen zu befassen.

Die Knessetsprecherin, Dalia Itzig, die erste Frau, die diesen Posten besetzt, wurde zu einer Mezuzah, auf ihrem erhöhten Podium von allen Ministern (außer von den Orthodoxen) geküßt. Danach küßten die neuen Minister sich gegenseitig, alle Knessetmitglieder, denen sie begegneten, umarmten sie dabei herzlich und schlugen ihnen auf den Rücken. Wenn wir annehmen, daß jeder Minister durchschnittlich ein Dutzend Personen geküßt hat, dann waren es etwa 300 Küsse.

Man kann sich eine solche Szene nur schwer in einem anderen Parlament vorstellen, geschweige denn in der ersten Knesset. David Ben-Gurion war kein großer Küsser.

Die Flagge, die vom Mast weht, ist natürlich die der Annäherung. Das war und ist Olmerts zentraler Wahlspruch. Aber man sollte seinen Atem nicht bis zu seiner Erfüllung anhalten.

Olmert kündigte selbst an, daß vor der Realisierung viel Zeit dem Dialog gewidmet werden solle. Dialog mit wem? Nun, mit den Siedlern. Und mit den Vereinigten Staaten. Und mit der "Internationalen Gemeinschaft".

Fehlt jemand auf dieser Liste? Nur die Palästinenser. Mit ihnen ist es nicht möglich (oder notwendig) zu reden – bis sie das Existenzrecht Israels als einen jüdischen Staat anerkennen, alle Verträge der Vergangenheit akzeptieren, mit der Gewalt aufhören und die Waffen der Organisationen konfiszieren. Kurz gesagt, sich bedingungslos ergeben. Und wo sie schon dabei sind, auch Mitglied der zionistischen Organisation werden. Olmert ist geduldig. Er ist bereit, zwei Jahre zu warten.

Während dieser zwei Jahre wird von den Vereinigten Staaten und der internationalen Gemeinschaft erwartet, daß sie die "permanenten" Grenzen, wie sie Olmert "einseitig" und nach Belieben festzulegen wünscht, anerkennt – ohne Übereinkunft mit den Palästinensern und ohne mit ihnen überhaupt gesprochen zu haben.

In den zwei Jahren wird die Regierung nichts für den Frieden tun. Im Gegenteil, sie wird die Siedlungsblöcke erweitern - um die Wohnungen für die Siedler vorzubereiten, die dorthin aus den isolierten Siedlungen umgesiedelt werden werden, wenn die Zeit gekommen ist. Das heißt also: zunächst werden die großen Siedlungen annektiert und erweitert und danach – so Gott will – werden einige kleine Siedlungen aufgelöst. Laut Plan werden alle Siedler auf der anderen Seite der Grünen Linie bleiben. Olmert hat schon kurzerhand den Vorschlag zurückgewiesen, daß Entschädigungen an die Siedler gezahlt werden, die jetzt bereit sind, nach Israel zurückzukommen.

Und was sind wirklich gute Nachrichten? Diese Regierung spricht öffentlich über die "Teilung des Landes" als einer "Rettungsleine des Zionismus". Sie spricht vom Rückzug aus dem "größten Teil von Judäa und Samaria" und der Auflösung von Siedlungen. Das zeigt eine große Veränderung der öffentlichen Meinung.

Einer der führenden Rassisten in der Knesset, Effi Eytam, schrie: "Es gibt keine jüdische Mehrheit für den Rückzug". Er sollte in die dritte Klasse zurückversetzt werden, um Mathematik zu lernen. Es stimmt, nach der rassistisch-nationalen Zählweise sind nur 58 jüdische Mitglieder der Knesset für den Rückzug (28 jüdische Mitglieder der Kadima, 17 der Arbeitspartei, 7 der Rentnerpartei, 5 von Meretz, das eine jüdische Mitglied von Hadash). Aber ihnen gegenüber lehnen nur 50 jüdische Mitglieder den Abzug ab (Likud, Shas, die Orthodoxen, die Lieberman-Anhänger und die Nationale Union). Die restlichen 12 Mitglieder sind Araber, von denen angenommen werden kann, daß sie den Rückzug befürworten (1 von Kadima, 2 von der Arbeitspartei, 2 von Hadash, 3 von Balad, 4 von der Vereinigten arabischen Partei).

Dementsprechend gibt es in der Knesset nicht nur eine große Mehrheit (70 gegen 50) für die Teilung des Landes, sondern sogar eine "jüdische Mehrheit" (58 gegen 50). Das ist ein Erdrutsch in der öffentlichen Meinung – ein Zeichen eines langsamen, aber massiven und anhaltenden Prozesses.

Wenige glauben, daß diese Regierung viereinhalb Jahre überdauern wird. Man schätzt allgemein, daß sie nach zwei Jahren zusammenbrechen wird, wenn die "Annäherung" beginnen soll. Zu dieser Zeit wird Shas wahrscheinlich die Regierungskoalition verlassen.

Olmert bat uns, Geduld zu haben. In Ordnung, wir werden geduldig auf die nächsten Wahlen warten.





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