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Stimmen aus dem Gefängnis

Ein palästinensisches Abkommen

15.05.2006  


Uri Avnery
Übersetzung Ellen Rohlfs




Das Gefängnis erfüllt in den Annalen jeder Revolutionsbewegung eine wichtige Funktion. Es dient als Schulungsstätte für Aktivisten, als Zentrum zur Kristallisation von Ideen, als Sammelplatz für Führer, als Plattform für Dialog zwischen den verschiedenen Fraktionen.

Für die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) spielt das Gefängnis all diese Rollen und noch viel mehr. Während der 39 Jahre der Besatzung sind Hunderttausende junger Palästinenser durch israelische Gefängnisse gegangen. Zu jeder Zeit werden durchschnittlich 10.000 Palästinenser in Gefängnissen gefangengehalten. Dies, der lebendigste und aktivste Teil des palästinensischen Volkes, gärt ständig. Menschen aus jeder Bevölkerungsschicht, jeder Stadt und jedem Dorf, jeder politischen und militärischen Fraktion sind hier zu finden.

Gefangene haben eine Menge Zeit. Sie haben die Möglichkeit zu lernen, nachzudenken, Seminare zu organisieren, sich ganztägig auf die Probleme ihres Volkes zu konzentrieren, Ansichten auszutauschen, Lösungen auszuarbeiten.

Um eine Explosion zu verhindern, erlauben die israelischen Gefängnisbehörden diesen Gefangenen ein großes Maß an Zusammenleben und Selbstregierung. Dies ist eine weise Politik. Praktisch sehen die Gefängnisse wie Kriegsgefangenenlager aus. Zusammenstöße zwischen den Gefangenen und den Gefängnisbehörden sind verhältnismäßig selten.

Eine der Folgen ist, daß die Insassen des Gefängnisses Hebräisch lernen. Sie sehen israelisches Fernsehen, hören israelisches Radio, werden mit der israelischen Lebensweise vertraut. Sie werden keineswegs Zionisten, lernen aber die israelische Realität kennen und sogar einige seiner Elemente schätzen. Beispielsweise die israelische Demokratie. "Was uns am besten gefiel", sagte mir einmal ein Ex-Gefangener, "waren die Debatten in der Knesset im Fernsehen. Als wir sahen, wie Knessetmitglieder den Ministerpräsidenten anschrieen und Mitglieder der Regierung verfluchten, waren wir wirklich begeistert. Wo gibt es so etwas in der arabischen Welt?"

Dies wurde besonders deutlich, als Yasser Arafat und seine Leute nach Palästina zurückkamen. Die ständige Kontroverse zwischen den Rückkehrern aus Tunesien und "den Leuten von drinnen" war nicht nur eine Folge des Generationenwechsels, sondern auch der Unterschied der Ansichten. Arafat und seine Leute hatten niemals in einer Demokratie gelebt. Wenn sie an einen zukünftigen palästinensischen Staat dachten, hatten sie das Regierungssystem Jordaniens, Ägyptens, Tunesiens und des Libanon vor Augen. Sie waren überrascht, als die jungen Leute, angeführt von den Ex-Gefangenen, auf das israelische Modell hinwiesen.

Es ist kein Zufall, daß fast alle meine palästinensischen Freunde Ex-Gefangene sind, die lange Zeit im Gefängnis verbrachten, manche 10 oder sogar 20 Jahre. Ich wundere mich immer, daß sie nicht verbittert sind. Die meisten von ihnen glaubten, daß Frieden mit Israel möglich und notwendig sei. Deshalb unterstützten viele aus ganzem Herzen die Friedenspolitik Arafats, auch wenn sie seine Art der Regierung kritisierten.

Nebenbei bemerkt, spiegelt die Einstellung der Ex-Gefangenen die Gefangenenbehörden irgendwie positiv wider. Viele der Gefangenen sind während der Verhörzeit Folterungen durch den Geheimdienst ausgesetzt gewesen, als sie vom Shin-Bet festgehalten wurden, aber nachdem sie im Gefängnis ankamen, hat die Behandlung dort nicht viele psychische Narben hinterlassen.

All dies ist eine Einleitung zum zentralen Ereignis dieser Woche: ein Abkommen, das im Gefängnis von Vertretern aller palästinensischen Fraktionen erreicht wurde.

Es ist ein Dokument von größter Bedeutung für die Palästinenser, einmal wegen der Identität seiner Autoren und zum anderen wegen seines Inhaltes.

Im Augenblick sind viele Führer der verschiedenen palästinensischen Fraktionen im Gefängnis: von Marwan Barghouti, dem Führer der Fatah in der West Bank bis Scheich Abd al-Khalak al-Natshe, einem Hamasführer. Mit ihnen zusammen sind dort die Führer des Islamischen Jihad, der Volksfront und der Demokratischen Front. Sie sind dort fortwährend im Dialog miteinander, während sie ständigen Kontakt zu den Führern ihrer Organisationen außerhalb und mit den Aktivisten im Gefängnis halten. Nur Gott weiß, auf welche Weise.

Wenn die Führer der Gefangenen mit einer Stimme sprechen, so haben ihre Worte ein größeres moralisches Gewicht als die Erklärungen jeder palästinensischen Institution, einschließlich des Präsidenten, des Parlaments und der Regierung.

Vor diesem Hintergrund sollte das faszinierende Dokument betrachtet werden.

Im allgemeinen folgt es der Politik Yasser Arafats: die Zwei-Staaten-Lösung, ein palästinensischer Staat in allen 1967 besetzten Gebieten mit Ost-Jerusalem als seiner Hauptstadt, die Freilassung aller palästinensischen Gefangenen. Das bedeutet praktisch natürlich die Anerkennung Israels.

Für die israelische Öffentlichkeit ist der problematischste Teil wie gewöhnlich das Flüchtlingsproblem. Kein palästinensischer Führer kann das Recht auf Rückkehr aufgeben und auch dieses Dokument nennt diese Forderung. Praktisch erkennen die Palästinenser aber die Tatsache an, daß dieses Problem nur in Übereinstimmung mit Israel gelöst werden kann. Das heißt, daß die Rückkehr nach Israel notwendigerweise nur einer begrenzten Anzahl gestattet werden kann und daß der größere Teil der Lösung in einer Rückkehr in den palästinensischen Staat und die Zahlung von Entschädigungen liegt. Es gibt einen Unterschied zwischen der prinzipiellen Anerkennung des Rechts auf Rückkehr, als ein Menschenrecht, und der praktischen Ausführung dieses Rechts in der realen Welt.

Ein wichtiger Teil des Dokumentes befaßt sich mit dem In-Ordnung-bringen des palästinensischen Hauses. Die Körperschaft, die das ganze palästinensische Volk innerhalb und außerhalb des Landes vertreten soll, ist die PLO. Das ist auch die Körperschaft, die alle Abkommen mit Israel unterzeichnet hat. Aber die PLO ist im Augenblick weit davon entfernt, der innenpolitischen Realität zu entsprechen. Hamas, die zu Beginn der ersten Intifada entstand, ist überhaupt nicht vertreten. Das selbe gilt für den Islamischen Jihad. Das Dokument fordert, daß beide in der PLO vertreten seien – eine vernünftige und weise Forderung. Es ruft auch zu neuen Wahlen für das palästinensische Parlament, den palästinensischen Nationalrat und zu einer nationalen Einheitsregierung auf.

Das Gefängnisübereinkommen könnte Hamas helfen, mit der neuen Realität fertig zu werden – und das ist wahrscheinlich das Hauptmotiv seiner Autoren.

Der durchschlagende Sieg von Hamas bei den palästinensischen Parlamentswahlen war nicht nur für Israel und die Welt eine Überraschung, sondern auch für Hamas selbst. Die Bewegung war vollkommen unvorbereitet, um die Verantwortung der Regierung zu übernehmen. Die neue Situation schuf einen ernstzunehmenden Widerspruch zwischen der Ideologie von Hamas und den Erfordernissen einer Regierungspartei. Wie Sharon sagte: "Was man von hier sieht, sieht man nicht von dort."

Dieser Widerspruch findet seinen Ausdruck in den Erklärungen verschiedener Führer der Hamas. Das ist keine Doppelzüngigkeit, sondern eher ein Ausdruck verschiedener Reaktionen gegenüber einer neuen Realität. Der Gesichtspunkt von Khaled Mashaal in Damaskus ist notwendigerweise ziemlich anders als der Gesichtspunkt von Ismail Haniyeh, dem neuen Ministerpräsidenten in Gaza. Politische und militärische Führer sehen die Dinge ebenfalls oft unterschiedlich.

Das ist eine normale Verwirrung und wahrscheinlich wird einige Zeit vergehen, bis ein Konsens erreicht und eine gemeinsame Position definiert wird. Deshalb ist es kein Wunder, wenn die Führer Meinungen von sich geben, die einander widersprechen. Da kann man jemanden sehen, der im israelischen Fernsehen mit viel Pathos erklärt, daß "wir nicht nur Jerusalem fordern, sondern auch Haifa, Besan und Tiberias", während ein anderer behauptet, daß die Bewegung „Israel nicht anerkennen wird, bis es nicht zu den Grenzen von vor 1967 zurückkehrt“ - ein "nein", das stillschweigend ein "ja" miteinschließt.

Das Gefängnisabkommen ist dafür bestimmt, den neuen Konsens zu schaffen, der Hamas helfen soll, eine Politik auszuführen, die auf einem Kompromiß zwischen der Ideologie und Theologie der Bewegung und den Erfordernissen des palästinensischen Volkes begründet ist.

Die mögliche Linie: die von Mahmoud Abbas angeführte PLO wird Verhandlungen mit Israel führen und das Abkommen (falls es eines geben wird) zur Anerkennung durch ein palästinensisches Referendum präsentieren. Hamas wird im voraus sein Ergebnis akzeptieren. Gleichzeitig wird Hamas einen Hudna (Waffenstillstand) für viele Jahre erklären, und so ein Ende der Gewalt auf beiden Seiten erlauben.

Das ist möglich. Die Frage ist, ob die israelische Regierung dies will. Im Augenblick sieht es nicht so aus.

Offen ruft sie dazu auf, die "endgültige Grenze" Israels einseitig zu definieren, was mit der Annektierung großer Teile der Gebiete verbunden ist. Für solch eine Politik ist eine Situation des "keinen Partner haben" notwendig. Das heißt, daß die Regierung jedes Dokument zurückweisen wird, das einen glaubwürdigen Partner schaffen könnte, der auch von der Weltgemeinschaft akzeptiert werden würde.

Während des Schau-Prozesses von Marwan Barghouti standen meine Kollegen und ich außerhalb der Gerichtshalle und hielten ein Poster, auf dem stand: "Schickt Barghouti an den Verhandlungstisch und nicht ins Gefängnis!" Aber das Erscheinen dieses Dokumentes legt nahe, daß ihn ins Gefängnis zu schicken, möglicherweise der größte Gefallen war, den die israelische Regierung ihm und dem palästinensischen Volk hätte antun können.





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