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Ein einseitiger Krieg

Ziele des Krieges gegen Palästina

09.07.2006  


Uri Avnery
Übersetzung Ellen Rohlfs




Das war's! Heute wird die Weltmeisterschaft zu Ende gehen. Wir können den neuen Weltmeistern gratulieren und ihnen Arrivederci oder Au revoir sagen – je nachdem.

Nun kann die Öffentlichkeit sich wieder weniger wichtigen Dingen zuwenden, wie dem täglichen Töten und der Zerstörung, dem gefangenen Soldaten, dem Abfeuern von Qassam-Raketen und all dem, was mit unserer Invasion in den Gaza-Streifen zu tun hat.

Allein schon die Definition der Operation stellt ein Problem dar.

Der Oberkommandierende des israelischen Militärs für den Süden des Landes, General Yoav Gallant, spricht von "Krieg" – wie auch die Medien. Wirklich?

"Krieg" ist eine bestimmte Situation, die vom internationalen Recht reguliert wird. Er findet zwischen Feinden statt, die gezwungen sind, grundlegende Regeln zu beachten.

Aber die israelische Regierung erklärt, daß sie nicht einem Feind gegenübersteht, der Rechte hat, sondern "Terroristen", "Kriminellen" und "Banden". Und jene haben natürlich keine Rechte.

In einem Krieg gibt es "Kriegsgefangene". Das trifft auch auf den Stabsgefreiten Gilad Shalit zu, der bei einer militärischen Aktion gefangengenommen wurde, wie auch auf die palästinensischen Kämpfer, die von uns festgehalten werden. Aber unsere Regierung bezeichnet Shalit als "entführt" und die palästinensischen Gefangenen als Verbrecher.

Es scheint, das jüdische Gehirn erfinde neue Patente (wie ein bekanntes israelisches Lied einmal lautete). Nach dem Einseitigen Abzug und dem Einseitigen Frieden, haben wir nun einen Einseitigen Krieg. Ein Krieg, in dem eine Seite (die stärkere) sich aller Rechte einer kriegsführenden Macht erfreut, während die andere (schwächere) Seite überhaupt keine Rechte hat.

Ein Krieg muß ein Ziel haben. Was ist das Ziel dieses Krieges?

Wie George Bushs Invasion in den Irak, hat Ehud Olmerts Invasion in den Gaza-Streifen ein Ziel, das sich von Tag zu Tag ändert.

Sie begann als Operation, um den Stabsgefreiten Shalit zu retten. Wie aber soll man einen Soldaten befreien, der von einer Untergrundorganisation gefangengenommen wurde und dessen Aufenthaltsort unbekannt ist? Wie befreit man ihn mit mit Gewalt, ohne sein Leben zu gefährden?

Die Armee hat eine Lösung – dieselbe Lösung, die sie für jedes Problem hat: die Anwendung von massiver Gewalt. Wenn wir nur immer mehr erobern, pulverisieren, töten und zerstören, dann wird der Zeitpunkt kommen, an dem die palästinensische Gesellschaft nicht mehr in der Lage sein wird, dem Leiden stand zu halten, und wird von den Untergrundkämpfern die Freilassung des Gefangenen verlangen. Und zwar bedingungslos.

Dies könnte das "Harris-Prinzip" genannt werden. Im 2. Weltkrieg versprach der britische Luftmarschall Arthur Harris ("Bomber Harris"), die Deutschen auf die Knie zu zwingen, indem er ihre Städte in Schutt und Asche legte. Die Deutschen sprachen von "Terrorangriffen". Bei einem von ihnen wurde die Stadt Dresden, eine der größten und prächtigsten Städte Deutschlands, völlig zerstört. Bei der riesigen Feuersbrunst verbrannten zwischen 35.000 und 100.000 Zivilisten zu Tode (es war unmöglich, die vom Feuersturm verbrannten Opfer zu zählen). Aber im Gegensatz zu Harris’ Versprechen brach die deutsche Moral nicht zusammen. Deutschland ergab sich erst, als das letzte deutsche Haus von Bodentruppen erobert worden war.

Die palästinensische Bevölkerung bricht ebenfalls, trotz ihrer fürchterlichen Situation, nicht zusammen. Sie verlangt fast einstimmig, daß jene, die den Soldaten gefangengenommen haben, ihn nicht freilassen, wenn nicht "palästinensische Kriegsgefangene" freigelassen werden.

Also wurde statt der Befreiung eines Gefangenen ein neues Kriegsziel geboren: dem Abfeuern von Qassams ein Ende zu setzen.

Das scheint einfach: man muß nur die Gebiete besetzen, von denen die Raketen in Richtung Sderot oder Ashkelon abgeschossen werden. Aber das ist eine Sisyphusaufgabe. Die Operation mag wohl eine vorübergehende Verringerung der Abschüsse bewirken. Aber selbst die Kommandeure der Operation geben zu, daß das Abfeuern in dem Augenblick wieder aufgenommen und wahrscheinlich zunehmen wird, in dem sich die Armee zurückzieht. Fast keiner befürwortet es, daß die Armee für längere Zeit dort bleibt. Die israelische Öffentlichkeit hat genug Erfahrung, um nicht zuzulassen, noch einmal vom "Gaza-Sumpf" verschlungen zu werden.

Der Wohnungsbauminister Shitreet hat eine Lösung: selbst "tausend Mal" nach Gaza zurückzukehren. Der Verteidigungsminister Peretz spricht von einem "hohen Preis, der von den Palästinensern verlangt werden wird" – von einem so schrecklichen Preis, daß die Palästinenser selbst die Qassam-Gruppen wegjagen werden. Dies ist die Ansicht des Generalstabschefs. Anstelle von "Bomber Harris" nun "Zerstörer Halutz". Nicht zufällig sind beide in den Rängen der Luftwaffe aufgestiegen.

Wenn die dauerhafte Beendigung der Qassams nicht durchführbar ist, welches Kriegsziel bleibt dann noch? Nur eines: den Zusammenbruch der palästinensischen Regierung herbeizuführen. Siehe: Harris-Prinzip.

Wie jedes einzelne Ereignis der vergangenen 120 Jahre des zionistisch-palästinensischen Konfliktes wird auch dieses auf sehr unterschiedliche Weise in das Bewußtsein der beiden Völker eingebrannt.

Für die meisten Israelis ist dies ein weiteres Kapitel im langen Krieg gegen den "palästinensischen Terrorismus". Wieder sind unsere tapferen Soldaten gezwungen, den gemeinen palästinensischen Mördern entgegenzutreten, deren uns ins Meer werfen wollen. Wieder kämpfen wir, weil "es keine Alternative gibt". Wie Yitzhak Shamirs berühmter Ausspruch: "Die Araber sind dieselben Araber, und das Meer ist dasselbe Meer."

Für die andere Seite ist dies ein heroischer Widerstand ihrer besten Söhne gegen einen üblen und bösartigen Feind. Eine der stärksten Armeen der Welt, ausgerüstet mit den modernsten Waffen, wird gegen eine Handvoll militärisch nicht ausgebildeter Kämpfer mit primitiven Waffen eingesetzt. Kampfflugzeuge, Kampfhubschrauber, schwere Panzer, Artillerie, Flugkörper-Schnellboote, gepanzerte Planierraupen und Nachtsichtgeräte – alles gegen Kalashnikows und Panzerfäuste. Ein palästinensisches Massada.

Der Kampf zwischen den palästinensischen Milizen führt jetzt zu neuer Einigkeit gegen den gemeinsamen Feind. Schon am Vorabend der Operation stimmte Ismail Haniyeh von der Hamas mit Mahmoud Abbas von der Fatah überein, das "Dokument der Gefangenen" zu akzeptieren, das de facto Israel innerhalb der Grenze der Grünen Linie anerkennt. Nun, in der Hitze des Gefechts, fordern Mitglieder der Fatah lautstark den Zusammenschluß mit den Kämpfern der Hamas im Kampf gegen die Invasoren und der verbliebene Einfluß von Abbas schwindet dahin.

Wenn die israelische Regierung ihre öffentlichen Drohungen, den palästinensischen Premierminister und seine Minister zu töten, wahr macht, wird Hamas nur gestärkt hervorgehen. Der Platz der Märtyrer wird durch neue Führer aus den Reihen der Kämpfer ersetzt werden, und die Palästinenser werden die Reihen hinter ihnen schließen.

In Israel könnte das Gegenteil geschehen: die Operation könnte sehr wohl der Regierung schaden, die sie begonnen hat. Der grausame Scheinwerfer der Krise wirft ein grelles Licht auf sie – und dieses Licht ist nicht im geringsten schmeichelhaft. Es scheint, es sei unter ihnen nicht eine einzige Person, die mehr ist als nur ein gesichtsloser Politiker.

Ehud Olmert redet sich selbst politisch zu Tode. Sein endloses Geplapper beginnt zu irritieren – umso mehr, als es nichts enthält als die leeren Klischees der 50er Jahre: Wir dürfen keiner Erpressung nachgeben; Terrorismus wird nicht siegen; der Feind will uns auslöschen; Mördern wird nicht verziehen; wir haben eine wunderbare Armee; unser Arm ist lang, und so weiter und so weiter.

Amir Peretz wiederholt die haarsträubendsten Sprüche seines schlimmsten Vorgängers. Nichts ist von dem Führer übriggeblieben, für den wir erst gestern stimmten, der im Begriff war eine soziale Revolution anzuführen und die nationalen Prioritäten zu verändern, das militärische Budget drastisch zu kürzen und den Frieden näher zu bringen. Was übrigblieb ist ein Sprecher (und nicht der brillianteste) des Generalstabschefs. Wenn meine Zeitschrift Haolam Hazeh noch erscheinen würde, dann hätte sie in dieser Woche mit Sicherheit eine Karikatur enthalten, die einen Papagei auf der Schulter von Dan Halutz zeigt.

Tsipi Livni, die so viele Hoffnungen geweckt hatte, ist einfach verschwunden. Sie spielt keine Rolle in diesem Drama. Außer den banalsten Platitüden hat sie nichts zu sagen. Wie Olmert zeigt sie sich als das, was sie ist: eine rechte Politikerin, die in die Fußstapfen ihres rechten Vater tritt.

Der wirkliche Herrscher Israels ist Dan Halutz, ein Kampfpilot, der die Welt unten nur durch ein Bombenvisier sieht. Sein einziger Konkurrent ist der Leiter des Sicherheitsdienstes, Yuval Diskin. Die Leiter der Armee und des Sicherheitsdienstes entscheiden unter sich den Lauf des Staates Israel. Olmert ist bestenfalls der Schiedsrichter.

Eine Merkwürdigkeit: die Namen weisen nicht auf die Neigung ihrer Besitzer hin. Ehud ("beliebt" auf hebräisch) verliert seine Popularität. Peretz ("ausbrechen") bricht nicht aus der alten Sicherheitspolitik aus. Livni ("weiß") rechtfertigt dunkle Taten. Und Halutz ("Pionier") führt eindeutig zu nichts Neuem.

Aber der merkwürdigste Name gehört dem Kommandeur der Operation, General Gallant. In europäischen Sprachen bedeutet "galant" tapfer und ritterlich.

Wie wird das alles enden?

Ich vermute, daß es am Ende keine Alternative geben wird, als daß mit der Freilassung des Soldaten ein Austausch von Gefangenen stattfinden wird. Unsere Seite wird dann hinausposaunen, dies sei ein großer Sieg der Operation, weil die Palästinenser dann gezwungen sein werden, sich mit einer kleineren Anzahl entlassener Gefangener zufrieden zu geben, als sie ursprünglich forderten. Die Palästinenser werden sich rühmen, einen glorreichen Sieg errungen zu haben, weil Israel nach all den hochtrabenden, mit "Niemals..." beginnenden Sprüchen Gefangene entlassen wird (Wie man sagt: Sag niemals nie!).

Wenn wir es wollen, könnte die Freilassung des Soldaten mit einem größeren Paket verbunden werden: einem gegenseitigen Waffenstillstand, einem Ende des Abfeuerns von Qassams, im Gegenzug für mit einem vollständigen Rückzug aus dem Gaza-Streifen, der Beendigung der "gezielten Tötungen" und der Freilassung der kürzlich verhafteten Hamas-Führer.

Ein kurzer Waffenstillstand kann zu einem langen Waffenstillstand und einem ernsthaften Dialog führen.

Ist die Olmert-Regierung dazu in der Lage, nach all dem arroganten Geprahle? Ist sie überhaupt daran interessiert, nachdem sie sich selbst der "einseitigen Konvergenz" und der Annektierung von Gebieten verschrieben hat?

Wahrscheinlich nicht. Andererseits könnte die israelische öffentliche Meinung aus den Folgen des "einseitigen Abzugs" und diesem einseitigen Krieg eine Lehre ziehen. Die israelische Friedensbewegung muß helfen, daß dies erreicht wird.





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