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"Beendet diese Scheiße"

Palästina ist der Schlüssel für den Libanon

21.07.2006  


Uri Avnery
Übersetzung Ellen Rohlfs




Eine Frau, eine Einwanderin aus Rußland, wirft sich voller Verzweiflung vor ihr Haus, das von einer Rakete getroffen worden war und schreit in gebrochenem Hebräisch: "Mein Sohn, mein Sohn!" da sie ihn tot glaubt. Tatsächlich war er nur verletzt und ins Krankenhaus gebracht worden.

Libanesische Kinder, mit Wunden übersät, in Beiruts Krankenhäusern. Die Beerdigung der Opfer einer Rakete in Haifa. Die Ruinen eines völlig zerstörten Stadtviertels in Beirut. Bewohner aus dem Norden Israels fliehen vor den Katyushas nach Süden. Bewohner des Süden des Libanons fliehen vor der israelischen Luftwaffe nach Norden.

Tod, Zerstörung. Unvorstellbares menschliches Leid.

Und der abscheulichste Anblick: George Bush sitzt gutgelaunt auf seinem Stuhl in Sankt Petersburg, über ihn gebeugt sein treuer Diener Tony Blair, während er das Problem löst: "Verstehen Sie? Was die tun müssen, ist, die Syrer dazu zu bringen, daß sie die Hizb Allah dazu bringen, mit der Scheiße aufzuhören, schon wäre es vorbei."

So sprach der Mächtigste der Welt und die sieben Zwerge – "die Großen der Welt" – sagten Amen.

Syrien? Aber erst vor wenigen Monaten war es Bush – ja der selbe Bush – der die Libanesen zwang, die Syrer aus ihrem Land zu jagen. Nun will er, daß sie im Libanon intervenieren und für Ordnung sorgen?

Vor 31 Jahren, als der libanesische Bürgerkrieg auf seinem Höhepunkt war, sandten die Syrer (ausgerechnet auf Einladung der Christen) ihre Armee in den Libanon. Zu jener Zeit schufen der damalige israelische Verteidigungsminister Shimon Peres und seine Verbündeten eine Hysterie in Israel. Sie verlangten, Israel möge den Syrern ein Ultimatum stellen, um sie daran zu hindern, die israelische Grenze zu erreichen. Yitzhak Rabin, der Premierminister, sagte damals zu mir, daß dies reiner Unsinn sei, weil es das Beste sei, das Israel passieren könne, wenn sich die syrische Armee entlang der Grenze formieren würde. Nur so könne die Ruhe sichergestellt werden, die gleiche Ruhe, die an der Grenze Israels zu Syrien herrsche.

Doch Rabin gab der Medienhysterie nach und stoppte die Syrer weit entfernt von der israelischen Grenze. Das so geschaffene Vakuum wurde von der PLO gefüllt. Ariel Sharon vertrieb 1982 die PLO und das Vakuum wurde von der Hizb Allah gefüllt.

Alles, was sich seitdem dort ereignete, wäre nicht geschehen, wenn wir den Syrern von Anfang an erlaubt hätten, die Grenze zu besetzen. Die Syrer sind vorsichtig, sie handeln nicht leichtsinnig.

Was hat Hassan Nasrallah nur gedacht, als er entschied, die Grenze zu überqueren und eine Guerilla-Aktion durchführen zu lassen, die den augenblicklichen Hexensabbat verursachte? Warum hat er es getan? Und warum zu diesem Zeitpunkt?

Jeder hält Nasrallah für eine kluge Person. Er ist auch besonnen. Seit Jahren hat er einen großen Vorrat an Raketen aller Art angelegt, um ein Gleichgewicht des Terrors herzustellen. Er wußte, daß die israelische Armee nur auf die Gelegenheit wartete, sie zu zerstören. Trotzdem hat er eine Provokation ausgeführt, die der israelischen Regierung den perfekten Vorwand lieferte, den Libanon mit dem vollen Einverständnis der Welt anzugreifen. Warum?

Möglicherweise war er vom Iran und von Syrien, die ihn mit den Raketen ausgestattet haben, aufgefordert worden, etwas zu tun, um den amerikanischen Druck von ihnen abzulenken. Und tatsächlich hat die plötzliche Krise die Aufmerksamkeit von den iranischen Nuklearbemühungen abgelenkt und es scheint, Bushs Haltung gegenüber Syrien habe sich ebenfalls verändert.

Aber Nasrallah ist weit davon entfernt, eine Marionette des Irans oder Syriens zu sein. Er führt eine echte libanesische Bewegung an und kalkuliert seine eigene Bilanz des Für und Wider. Wenn er vom Iran und/oder von Syrien aufgefordert worden wäre, etwas zu tun – wofür es keinen Beweis gibt – und er es als im Widerspruch zu den Zielen seiner Bewegung stehend angesehen hätte, dann hätte er es nicht getan.

Vielleicht handelte er aus innerpolitischen Gründen. Das libanesische politische System wurde stabiler und es wurde schwieriger, den militärischen Flügel der Hizb Allah zu rechtfertigen. Ein neuer bewaffneter Vorfall hätte helfen können. (Solche Betrachtungen sind auch uns nicht fremd, besonders nicht vor Budget-Debatten.)

Aber all dies erklärt nicht den Zeitpunkt. Schließlich hätte Nasrallah einen Monat vorher oder einen Monat später handeln können, ein Jahr vorher oder später. Es muß einen weitaus triftigeren Grund gegeben haben, ihn davon zu überzeugen, sich genau jetzt auf ein solches Abenteuer einzulassen.

Und den gab es in der Tat: Palästina.

Zwei Wochen zuvor hatte die israelische Armee einen Krieg gegen die Bevölkerung des Gaza-Streifens begonnen. Auch dort war der Vorwand eine Guerilla-Aktion, bei der ein israelischer Soldat gefangengenommen wurde. Die israelische Regierung nutzte die Gelegenheit und führte einen seit langem vorbereiteten Plan aus: den Widerstandswillen der Palästinenser zu brechen und die neu gewählte palästinensische Regierung zu zerstören, die von der Hamas dominiert wird. Und natürlich die Qassams zu stoppen.

Die Operation im Gaza-Streifen ist eine besonders brutale und so sieht es auch auf den Bildschirmen in aller Welt aus. Schreckliche Bilder aus Gaza erscheinen täglich und stündlich in den arabischen Medien. Tote, Verletzte, Verwüstung. Wassermangel, fehlende Medikamente für die Verwundeten und Kranken. Ganze Familien getötet. Kinder schreien vor Schmerz. Mütter weinen. Gebäude stürzen in sich zusammen.

Die arabischen Regierungen, die alle von Amerika abhängig sind, taten nichts um zu helfen. Da sie alle von islamischen Oppositionsbewegungen bedroht sind, schauten sie mit einiger Schadenfreude zu, was der Hamas geschah. Aber dutzende Millionen Araber vom Atlantik bis zum Persischen Golf sahen zu, regten sich auf und wurden auf ihre Regierung wütend, schrien nach einem Führer, der ihren belagerten und heldenhaften Brüdern zu Hilfe eilen würde.

Vor 50 Jahren schrieb Gamal Abd al-Nasser, der neue ägyptische Führer, daß eine Rolle auf einen Helden wartet. Er entschied, selbst dieser Held zu sein. Jahrelang war er das Idol für die arabische Welt, Symbol für die arabische Einheit. Aber Israel nützte eine Gelegenheit und stürzte ihn im Krieg des Juni 1967. Danach stieg Saddam Husseins Stern am Horizont auf. Er wagte es, sich gegen das mächtige Amerika zu stellen und Raketen auf Israel abzuschießen und wurde der Held der arabischen Massen. Aber er wurde vernichtend und in demütigender Weise von den Amerikanern, die von Israel angespornt wurden, geschlagen.

Vor einer Woche sah sich Nasrallah derselben Versuchung gegenüber. Die arabische Welt schrie nach einem Helden und er sagte: Hier bin ich! Er forderte Israel und indirekt auch die Vereinigten Staaten und die ganze westliche Welt heraus. Er begann den Angriff ohne Verbündete und wußte, daß weder der Iran noch Syrien es riskieren könnten, ihm zu helfen.

Vielleicht wurde er mitgerissen wie Abd al-Nasser und Saddam vor ihm. Vielleicht hat er die Gewalt des zu erwartenden Gegenangriffs unterschätzt. Vielleicht glaubte er wirklich, daß unter dem Gewicht seiner Raketen Israels Nachhut zusammenbrechen würde (So wie die israelische Armee glaubte, die israelische Zerstörung würde das palästinensische Volk im Gaza-Streifen und die Schiiten im Libanon zerbrechen.)

Eines ist klar: Nasrallah hätte diesen Teufelskreis der Gewalt nicht begonnen, wenn die Palästinenser ihn nicht um Beistand gebeten hätten. Entweder aus kühler Berechnung oder aus wahrer moralischer Entrüstung oder wegen beidem – Nasrallah eilte zur Rettung des belagerten Palästinas.

Die israelsiche Reaktion hätte man erwarten können. Seit Jahren warten die Armeekommandeure auf eine Gelegenheit, das Raketenarsenal der Hizb Allah zu vernichten und diese Organisation zu zerstören oder sie wenigstens zu entwaffnen und sie sehr weit weg von der israelischen Grenze zu befördern. Sie versuchten dies auf die einzige ihnen bekannte Weise: indem sie so viel Verwüstung verursachen, daß die libanesische Bevölkerung aufsteht und ihre Regierung zwingt, Israels Forderungen zu erfüllen.

Werden diese Ziele erreicht werden?

Hizb Allah ist die glaubwürdige Vertretung der schiitischen Gemeinschaft, die etwa 40 Prozent der libanesischen Bevölkerung ausmacht. Zusammen mit den anderen Muslimen bilden sie die Mehrheit im Land. Der Gedanke, daß die schwächliche libanesische Regierung - die auf jeden Fall auch die Hizb Allah einschließt - in der Lage wäre, diese Organisation aufzulösen, ist lächerlich.

Die israelische Regierung verlangt, die libanesische Armee solle an der Grenze entlang eingesetzt werden. Dies ist mittlerweile zu einem Mantra geworden. Es enthüllt totale Ignoranz. Die Schiiten haben bedeutende Positionen in der libanesischen Armee inne und so gibt es überhaupt keine Chance, daß sie einen Bruderkrieg gegen sie beginnen würde.

Im Ausland nimmt ein anderer Gedanke Gestalt an: eine internationale Truppe sollte entlang der Grenze aufgestellt werden. Die israelische Regierung ist strickt dagegen. Eine wirklich internationale Truppe – nicht wie die unglückselige UNIFIL, die seit Jahrzehnten dort ist – würde die israelische Armee daran hindern, zu tun, was immer sie will. Außerdem würde, sollte sie dort ohne das Einverständnis der Hizb Allah aufgestellt werden, ein neuer Guerillakrieg gegen sie beginnen. Würde solch eine Truppe, ohne wirkliche Motivation, Erfolg haben, wo die mächtige israelische Armee geschlagen wurde?

Dieser Krieg mit seinen hunderten von Toten und Zerstörungswellen wird zu einem weiteren zerbrechlichen Waffenstillstand führen. Die israelische Regierung wird den Sieg ausrufen und behaupten, sie habe "die Spielregeln geändert". Nasrallah (oder seine Nachfolger) werden behaupten, ihre kleine Organisation habe sich gegen eine der mächtigsten Militärmaschinen der Welt erhoben und ein weiteres leuchtendes Kapitel über Heldentum in den Annalen der arabischen und muslimischen Geschichte geschrieben.

Es wird keine richtige Lösung erreicht werden, weil die Wurzel der Angelegenheit nicht behandelt wird: das palästinensische Problem.

Vor vielen Jahren hörte ich im Radio eine der Reden von Abd al-Nasser vor einer großen Menschenmenge in Ägypten. Er ließ sich über die Errungenschaften der ägyptischen Revolution aus, als Schreie aus der Menge kamen: "Filastin, ya Gamal!" ("Palästina, oh Gamal!") Daraufhin vergaß Nasser, über sein angefangenes Thema zu reden, und sprach mit wachsender Begeisterung über Palästina.

Seit damals hat sich nicht viel verändert. Wenn die palästinensische Sache erwähnt wird, wirft sie ihren Schatten über alles andere. Genau dies geschah auch jetzt.

Jeder, der sich nach einer Lösung sehnt, muß wissen: es gibt keine Lösung, ohne die Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts. Und es gibt keine Lösung des palästinensischen Problems ohne Verhandlungen mit der gewählten Regierung, einer Regierung, der die Hamas vorsteht.

Wenn jemand ein für alle mal diese Scheiße – wie Bush so feinfühlig formulierte – beenden will, dann geht es nur auf diese Weise.





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