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Guten Morgen, Elijahu!

Die unerwarteten Gegner des israelischen Militärs

25.08.2006  


Uri Avnery
Übersetzung Ellen Rohlfs




Man erzählt sich, daß Oscar Wilde einmal die Premiere des Stückes eines Kollegen besuchte und alle paar Minuten seinen Hut zog. Als er wegen seines seltsamen Betragens gefragt wurde, antwortete er: "Ich bin eine höfliche Person. Ich ziehe meinen Hut, wenn ich einem alten Bekannten begegne."

Wenn ich einen Hut trüge, müßte ich ihn in diesen Tagen alle paar Minuten ziehen, wenn ich im Fernsehen Talkshows ansehe, Radio höre oder die Zeitung lese. Ich stoße ständig auf Dinge, die ich schon vor Jahren geschrieben habe und besonders auf Dinge, die ich seit Beginn des Krieges geschrieben habe.

Zum Beispiel: seit Jahrzehnten habe ich immer wieder davor gewarnt, daß die Besatzung unsere Armee korrumpiert. Nun sind die Zeitungen voll kluger Artikel geachteter Kommentatoren, die - welch eine Überraschung! – entdecken, daß die Besatzung unsere Armee korrumpiert hat.

In solchen Situationen sagen wir auf Hebräisch: "Guten Morgen, Elijahu!" Du bist anscheinend endlich aufgewacht.

Sollte in meiner Bemerkung etwas Ironie liegen, so bitte ich um Entschuldigung. Schließlich schrieb ich immer in der Hoffnung, daß meine Worte die Leser überzeugen – und zwar vor allem die Leute des israelischen Establishments – und daß sie sie weitergeben würden. Wenn dies also jetzt geschieht, bin ich über die Plagiate ziemlich glücklich.

Aber es ist wichtig, auszudrücken, auf welche Weise die Besatzung "unsere Armee korrumpiert" hat. Sonst bleibt dies nur ein inhaltsloser Spruch und wir werden nichts daraus lernen.

Ein persönlicher Rückblick: in der Mitte des Krieges von 1948 machte ich eine unerfreuliche Erfahrung. Nach einem Tag schwerer Kämpfe schlief ich fest auf einen Feld in der Nähe des arabischen Dorfes Suafir (heute Sapir). Rund um mich schliefen auch die anderen Soldaten meiner Kompanie, der Füchse Samsons. Plötzlich wachte ich durch eine fürchterliche Explosion auf. Ein ägyptisches Flugzeug hatte eine Bombe auf uns abgeworfen. Getötet: niemand. Verwundet: 1.

Wie kam das? Sehr einfach: jeder von uns lag in seinem persönlichen Schützenloch, die wir trotz unserer Müdigkeit gegraben hatten, bevor wir uns schlafen legten. Zu jener Zeit war es selbstverständlich, daß wenn wir irgendwo ankamen, wir uns als erstes eingruben. Manchmal wechselten wir dreimal am Tag den Standort und jedes Mal gruben wir uns ein Schützenloch. Wir wußten, daß davon unser Leben abhing.

Nun nicht mehr. Auf einem der Höhepunkte des 2. Libanonkrieges wurden 12 Mitglieder einer Kompanie in der Nähe von Kfar Giladi von einer Rakete tödlich getroffen, während sie auf einem offenen Feld saßen. Die Soldaten beschwerten sich später, daß sie nicht zu einem Unterstand geführt worden waren. Haben die Soldaten heutzutage noch nichts von einem Schützenloch gehört? Hatte man ihnen überhaupt eine eigene Schaufel gegeben?

Warum versammelten sich Soldaten innerhalb des Libanons in Zimmern von Häusern, wo sie von panzerbrechenden Raketen getroffen wurden, statt sich Schützenlöcher zu graben?

Es scheint, als sei der Armee diese Praxis abgewöhnt worden. Kein Wunder: eine Armee, die sich mit „Terroristen“ in der West Bank und im Gaza-Streifen befaßt, muß keine besonderen Vorsichtsmaßnahmen beachten. Schließlich wird sie von keiner Luftwaffe bombardiert, keine Artillerie feuert Granaten auf sie. Sie brauchen keinen besonderen Schutz.

Das trifft auf alle unsere Streitkräfte zu Lande, zu Wasser und in der Luft zu. Es ist ohne Zweifel ein Luxus, gegen einen Feind zu kämpfen, der sich nicht richtig verteidigen kann. Aber es ist gefährlich, sich daran zu gewöhnen.

Die Marine zum Beispiel. Seit Jahren fuhr sie an den Küsten des Gaza-Streifens und des Libanons entlang, bombardierte nach Belieben, verhaftete Fischer, kontrollierte Schiffe. Sie dachte gar nicht daran, daß der Feind zurückschießen könnte. Plötzlich geschah es – und sogar live im Fernsehen. Die Hizb Allah traf sie mit einer Land-See-Rakete.

Da war die Überraschung groß. Es wurde sogar als Frechheit angesehen. Was, ein Feind, der zurückschießt? Was kommt als nächstes? Und warum hat uns der militärische Geheimdienst nicht vor einer Land-See-Rakete gewarnt?

In der Luft wie zur See. Seit Jahren schießen, bombardieren und töten die Piloten nach Belieben. Sie sind in der Lage, mit großer Genauigkeit einen fahrenden PKW (zusammen mit den Passanten, natürlich) zu treffen. Ihr technisches Niveau ist ausgezeichnet. Aber was? Niemand schießt auf sie, während sie dies tun.

Die Burschen der britischen Luftwaffe mußten sich während des Blitzkrieges ("die wenigen, denen so viele so viel schulden") den entschlossenen Piloten der deutschen Luftwaffe entgegenstellen und die meisten von ihnen wurden getötet. Später mußten die Briten und Amerikaner, die die deutschen Städte bombardierten, durch eine mörderische Flakabwehr spießrutenlaufen.

Unsere Piloten dagegen haben keine solchen Probleme. Wenn sie über der West Bank und dem Gaza-Streifen im Einsatz sind, gibt es keine feindlichen Piloten, keine Boden-Luft-Raketen, keine Flak. Der Himmel gehört ihnen und sie können sich auf ihre wahre Aufgabe konzentrieren: die Infrastruktur des Lebens zu zerstören und als fliegende Henker zu agieren, die Objekte der "gezielten Liquidationen eliminieren" und nur "einen leichten Schlag am Flügel spüren" während sie eine ein Tonnen-Bombe über einem Wohnviertel ausgeklinken.

Schafft dies eine gute Luftwaffe? Bereitet dies für eine Schlacht mit einem richtigen Feind vor? Im Libanon trafen die Piloten (noch) nicht auf Flugabwehr-Beschuß. Der einzige abgeschossene Hubschrauber wurde von einer Panzerabwehr-Rakete getroffen, während er Soldaten absetzte. Aber was ist mit dem nächsten Krieg, über den alle sprechen?

Und die Bodentruppen? Waren sie auf diesen Krieg vorbereitet?

Seit 39 Jahren waren sie gezwungen, die Aufgaben einer Kolonialpolizei zu erledigen: hinter Kindern herzulaufen, die mit Steinen und und Molotov-Cocktails werfen, Frauen wegzuziehen, die versuchen, ihre Söhne vor der Verhaftung zu schützen, zuhause schlafende Menschen gefangenzunehmen. Stundenlang an den Kontrollpunkten zu stehen und zu entscheiden, ob eine Schwangere ein Krankenhaus erreichen darf oder ob ein alter kranker Mann zurückgeschickt werden soll. Schlimmstenfalls in eine Altstadt einzufallen, um untrainierten "Terroristen" gegenüberzustehen, die nichts anderes als Kalashnikovs im Kampf gegen Panzer und Flugzeuge ihrer Besatzer haben, als auch Mut und unglaubliche Entschlossenheit.

Plötzlich wurden diese Soldaten in den Libanon gesandt, um harten, gut ausgebildeten und hochmotivierten Guerillakämpfern gegenüberzutreten, die bereit sind, beim Ausführen ihrer Mission zu Sterben. Kämpfer, die gelernt haben, aus unerwarteten Richtungen zu kommen, in gut vorbereitete Bunkern zu verschwinden und moderne und wirksame Waffen anzuwenden.

"Wir sind nicht für diesen Krieg ausgebildet worden!" beklagen sich jetzt die Reservesoldaten. Sie haben Recht. Wo hätten sie ausgebildet werden sollen? In den Gassen des Flüchtlingslagers Jabalieh? In den wohleinstudierten Szenen mit Umarmungen und Tränen, als die verwöhnten Siedler mit "Gefühl und Entschlossenheit" umgesiedelt wurden? Offensichtlich war es einfacher, Yasser Arafat und seine untrainierten Leibwächter in der Mukata'ah in Ramallah zu blockieren als Bint Jbeil wieder und wieder einzunehmen.

Dies trifft noch mehr auf die Panzer zu. Es ist leicht, einen Panzer auf der Hauptstraße von Gaza oder über Häuserreihen in einem Flüchtlingslager zu fahren, wenn er sich nur Steine werfenden Jungen gegenübersieht, wenn der Gegner keine ausgebildeten Kämpfer und keine halbwegs modernen Waffen besitzt. Es ist ein Riesenunterschied, denselben Panzer durch ein Wohngebiet im Libanon zu fahren, wenn ausgebildete Guerillas mit wirksamen Panzerabwehrwaffen hinter jeder Ecke lauern können. Das ist eine ganz andere Geschichte. Um so mehr als der modernste Panzer unseres Heeres nicht gegen Raketen immun ist.

Die tiefste Fäulnis kam in der Logistik zum Vorschein. Sie funktionierte nicht. Wie sollte sie auch? Es ist keine aufwendige Logistik notwendig, um den Soldaten am Kalandia-Kontrollpunkt Lebensmittel und Wasser zu bringen.

Die einfache Wahrheit ist, daß unsere Armee seit Jahrzehnten keinem ernsthaften militärischen Gegner gegegenübergestanden hat. Das letzte Mal war vor 24 Jahren, während des 1. Libanonkrieges, als sie gegen die syrische Armee kämpfte.

Damals sagten wir in meinem Magazin Haolam Hazeh, daß der Krieg ein vollkommener militärischer Fehlschlag war, eine Tatsache, die von allen Militärkommentatoren unterdrückt wurde. Auch in jenem Krieg erreichte unsere Armee nicht ihre Ziele dem Plan entsprechend: sie erreichte sie entweder gar nicht oder zu spät. Im syrischen Sektor erreichte sie ihr Ziel, die Straße Beirut-Damaskus, gar nicht. Im palästinensischen Sektor erreichte sie die Straße viel zu spät und nur durch Verletzung der übereingekommenen Waffenruhe.

Der letzte ernstzunehmende Krieg unserer Armee war der Yom-Kippur-Krieg. Nach den anfänglichen schmachvollen Niederlagen hat sie tatsächlich noch einen eindrucksvollen Sieg errungen. Aber das war nach nur sechs Jahren Besatzung. Jetzt, 33 Jahre später, sehen wir den ganzen Schaden, der durch das Besatzung genannte Krebsgeschwür angerichtet worden ist und der sich bereits auf alle Teile des militärischen Körpers ausgebreitet hat.

Wie können wir den Krebs zum Stillstand bringen?

Der Militärkommentator Ze'ev Schiff hat ein Patentrezept. Gewöhnlich reflektiert Schiff die Ansichten des Militäroberkommandos. (Vielleicht gab es in den vergangenen 40 Jahren auch Augenblicke, in denen er Meinungen äußerte, die nicht identisch mit denen des Generalstabs waren, aber wenn ja, dann habe ich sie vergessen). Er schlägt vor, die Bürde der Besatzung statt von der Armee von der Grenzpolizei tragen zu lassen.

Klingt vernünftig, ist aber völlig unrealistisch. Wie kann Israel eine zweite große Streitkraft zum Erhalt der Besatzung zusätzlich zur Armee aufrechterhalten, deren Unkosten schon an die 12 Milliarden US-Dollars im Jahr betragen?

Aber, Gott sei Dank, gibt es noch eine andere Lösung. Eine erstaunlich einfache: uns ein für alle Mal von der Besatzung zu befreien. In Absprache und in Zusammenarbeit mit den Palästinensern aus den besetzten Gebieten hinausgehen. Mit dem palästinensischen Volk Frieden zu schließen, damit sie ihren unabhängigen Staat Seite an Seite mit Israel errichten können..

Und da wir gerade dabei sind auch Frieden mit Syrien und dem Libanon zu machen.

So dass die "Verteidigungsarmee Israels", wie sie offiziell auf hebräisch genannt wird, zu ihrem ursprünglichen Zweck zurückgeführt wird: den Staat Israel in seinen international anerkannten Grenzen zu verteidigen.





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