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Nachrichten, die man nicht überall findet.





Wegen eines kleinen Nagels

"Etwas ist faul im Staate Israel."

29.09.2006  


Uri Avnery
Übersetzung Ellen Rohlfs




Wäre Hamlet ein Reservist der israelischen Armee gewesen, würde er vielleicht jetzt erklären: "Etwas ist faul im Staate Israel."

Und tatsächlich, da ist etwas faul -
  • Der Präsident des Staates weigert sich, sein Amt abzugeben, obwohl er sich mit acht individuellen Anschuldigungen wegen sexueller Belästigung konfrontiert sieht. Er jammert, eine riesige Verschwörung sei gegen ihn ausgeheckt worden und zeigt auf Netanyahus Leute in der Likud-Partei.

  • Der Premierminister und der Verteidigungsminister weigern sich trotz des durch die überwältigende Mehrheit des Volkes gegenüber Ehud Olmert (70 Prozent) und Amir Peretz (82 Prozent) ausgedrückten mangelnden Vertrauens, zurückzutreten. Anstatt der Errichtung einer unabhängigen juristischen Untersuchungskommission zuzustimmen, setzten sie ein Prüfungskomitee ein, das das Vertrauen der Öffentlichkeit schon verloren hat, bevor es überhaupt begonnen hat, die Ereignisse des Libanonkrieges zu untersuchen.

  • Der Generalstabschef, der von pensionierten und dienenden Generälen angegriffen wird, erklärt, er werde "seine Uniform nicht ausziehen, bis sie ihm jemand vom Leibe reißt".

  • Der Chef des Knessetkomitees für auswärtige und militärische Angelegenheiten ist wegen Betrugs und Meineids angeklagt worden.

  • Der Justizminister steht vor Gericht, weil er seine Zunge in den Mund einer Soldatin gesteckt habe.
Nach den jüngsten Umfragen ist die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung glücklich über ihre persönliche Situation (80 Prozent), aber deprimiert über die Situation des Staates (59 Prozent).

Was also tun?

Sehr einfach: man müßte nur das System verändern.

Dies ist eine typisch israelische Reaktion. Vielleicht typisch menschlich.

Wenn eine Krise die Grundlage unserer Weltanschauung umzuwerfen droht, neigen wir dazu, das Hauptproblem beiseite zu schieben und uns auf ein Detail zu konzentrieren. Dadurch brauchen wir nicht länger unsere grundlegenden Überzeugungen und unsere gewohnte Weltanschauung in Frage zu stellen. Wir nehmen irgendein - möglichst kleines - Detail und weisen ihm alle Schuld zu. Das ist es! Wir haben es gefunden! Das ist an allem schuld!

In einem alten Lied heißt es: "Alles wegen eines kleinen Nagels!" Wenn also ein größeres Unglück geschehen ist, dann finden wir den kleinen Nagel, der es verursacht hat – und wir brauchen nicht weiter zu suchen.

Zum Beispiel: der Yom Kippur-Krieg. Warum ist dieser blutige Krieg überhaupt ausgebrochen? Warum nahmen wir Anwar al-Sadats früheres Friedensangebot im Austausch für die Rückgabe des Sinai nicht an? Warum segelte unser Narrenschiff vergnügt vom Sechs-Tage-Krieg zum Yom-Kippur-Krieg auf einem Meer der Arroganz?

Nein, solche Fragen wurden nicht gestellt. Was wurde gefragt? Dinge wie: Warum warnte uns der militärische Nachrichtendienst nicht davor, daß die Ägypter und Syrer im Begriff waren, uns anzugreifen? Warum wurden die Reserveeinheiten nicht rechtzeitig einberufen? Warum wurden die "Instrumente" (Panzer und Artillerie) nicht an den Kanal gebracht?

Man nannte es "Das Versäumnis". Das war der Wahlspruch der Massenprotestbewegung, die Golda Meir und Moshe Dayan hinwegfegte.

Das wäre so, als würde man bei einer Autopanne den Aschenbecher leeren. Im Augenblick geschieht etwas ähnliches.

Die Umfragen zeigen, daß die Öffentlichkeit kein Vertrauen in die Führung hat. Aber die Öffentlichkeit sagt nicht: Wir haben diese Führer gewählt, also ist es unsere Schuld. Das wäre ein unangenehmes Eingeständnis. Sie sagt vielmehr: das ist nicht unsere Schuld. Wessen Schuld ist es also? Das "System" natürlich.

Das kommt daher, daß unsere parlamentarische Demokratie dem Premierminister keine volle Amtsperiode von vier Jahren zusichert. Er kann vorher stürzen. Es zwingt ihn auch, Führer der Koalitionsparteien in seine Regierung aufzunehmen, auch dann, wenn sie ziemlich inkompetent sind, ihre Ministerien zu leiten. Der Premierminister kann nicht langfristig planen oder fähige Experten mit den Ministerien beauftragen.

Das ist sehr schlecht. Deshalb müssen wir das amerikanische System übernehmen. Das Volk wird einen Präsidenten wählen, der mindestens volle vier Jahre sein Amt innehat. Er wird eine Regierung mit hervorragenden Persönlichkeiten zusammenstellen, jeder ein Experte in seinem Fach. So wird Zion erlöst werden.

Dies ist ein reinstes Wunderheilmittel, eine Flasche, die alle Krankheiten heilt, ohne Schmerzen und ohne Verzögerung.

Zuallererst kann man ein politisches System nicht ohne weiteres von einem Land auf ein anderes übertragen. Jeder Staat hat seine eigene Tradition, seine besondere Kultur, seine eigene soziale Zusammensetzung. Ein politisches System muß von innen heraus wachsen. Es kann nicht einem anderen Volk übergestülpt werden. Wenn man dies versucht, wird das Volk es seinen eigenen Bedürfnissen anpassen und bis zur Unkenntlichkeit verändern. (Japan nach dem 2. Weltkrieg kommt einem dabei in den Sinn). Nur weltfremde Professoren in Elfenbeintürmen können sich vorstellen, eine kranke Gesellschaft könne durch ein ideales politisches System, kopiert von einem anderen Land, geheilt werden.

Dies wurde in Israel schon einmal bewiesen: unter dem Einfluß einiger Professoren wurde unser "System" vor einigen Jahren verändert. Es wurde entschieden, daß der Premierminister direkt gewählt wird, unabhängig von den Wahlen zur Knesset. Aber bald wurde deutlich, daß dieses System noch schlechter als das vorangegangene war. Also beratschlagten sich die Weisen und stellten das alte System wieder her.

Aber es ist für uns gar nicht nötig, eigene Erfahrungen damit zu machen. Um die Vorteile des Präsidentensystems richtig einzuschätzen, genügt es, die Situation in seinem Ursprungsland zu betrachten: in den Vereinigten Staaten.

Was hat dieses System dort erreicht? Tatsächlich stehen Präsidenten mindestens vier Jahre zur Verfügung, aber viele würden heute ein "leider!" hinzufügen. Wenn entdeckt wird, daß ein vollkommener Idiot gewählt worden ist, der sein Land in verheerende Abenteuer stürzt, kann er nicht abgesetzt werden. In unserem parlamentarischen System kann, wie in Großbritannien, ein Premierminister verhältnismäßig leicht abgesetzt werden. Tony Blair wird innerhalb eines Jahres verschwunden sein, während George Bush seine ganze Amtszeit ableisten wird.

Sind die amerikanischen Minister kompetenter als unsere? Ist Donald Rumsfeld eine kleinere Katastrophe als Amir Peretz?

Um zum Präsidenten gewählt zu werden, benötigt ein Kandidat außerdem große Mengen von Geld. Solche Unsummen können nur von Interessengruppen, Lobbys und großen Gesellschaften kommen. Das amerikanische System ist korrupt bis ins Mark – eine so tiefe und weit verbreitete Korruption, daß die Sünden von Olmert & Co unschuldig erscheinen läßt.

Aber Logik ist nicht der Schlüssel bei dieser Diskussion, weil die Forderung nach einem Systemwechsel nur der Deckmantel für etwas viel unheilvolleres ist: den Ruf nach einem Führer.

Solch ein Ruf taucht immer in Krisenzeiten auf. Wenn das Gefühl einer Niederlage und ein Klima des Mißtrauens gegenüber der alten Führung herrscht, verlangen die Menschen nach einem Übervater. Die Demokratie erscheint schwach und faul, insbesondere, wenn sie gleichzeitig mit der Legende konfrontiert wird, die Politiker hätten "die Armee am Sieg gehindert". Ein starker Führer löst Probleme mit eiserner Faust. Eine Politik des Dialogs und der Verhandlungen ist etwas für Schwächlinge.

Es muß klar sein, der Vorschlag, das Präsidentensystem einzuführen, ist nur eine Verschleierung des Rufes nach einem allmächtigen Führer. Man muß sich nur die ansehen, die dies vorschlagen.

Der erste Befürworter des "Systemwechsels" ist Avigdor Liberman, der Vorsitzende der "Israel-Beytenu"-Partei ("Israel Unsere Heimat"), die sich vor allem aus Einwanderern aus der früheren Sowjet-Union zusammensetzt. Es ist eine Partei der radikalen Rechten – um zu untertreiben. In anderen Ländern würde sie anders genannt werden.

"Israel-Beytenu" steht für ungebremsten Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit. Sie ist radikaler als Jörg Haider in Österreich und Jean-Marie Le-Pen in Frankreich. Sie fordert alle Palästinenser auf, das Land zu verlassen, einschließlich der arabischen Bürger in Israel selbst, die 20 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Das hindert Ehud Olmert nicht daran, öffentlich zu erklären, er hätte diese Partei gerne in seiner Regierung. (Als Haider sich der österreichischen Regierung angeschlossen hatte, rief Israel seinen Botschafter aus Wien zurück).

Liberman, der Verteidigungsminister sein möchte, hat fünf Bedingungen gestellt, um sich der Regierung anzuschließen, angeführt von der Forderung nach der Einführung des Präsidialsystems. Es ist ziemlich klar, wer sein Präsidentschaftskandidat ist: Avigdor Liberman.

Meinungsumfragen zufolge würde Libermans Partei bei jetzt durchgeführten Wahlen von 120 Sitzen der Knesset 16 Sitze erhalten (verglichen mit den 11 Sitzen in der derzeitigen Knesset). Dazu muß man die neun Sitze der "Nationalen Union" in der gegenwärtigen Knesset zählen, deren Parteivorsitzender, ein Kippah-tragender General, öffentlich die Vertreibung aller arabischen Einwohner aus den besetzten palästinensischen Gebieten und die Rücknahme sämtlicher demokratischer Rechte der arabischen Bürger Israels fordert. Wenn solche Parteien ein Fünftel des Wählervolks darstellen, dann gibt es sicher Gründe zur Besorgnis.

Ich glaube an die israelische Demokratie. Sie ist ein unglaubliches Phänomen, wenn man bedenkt, woher die meisten israelischen Bürger oder ihre Eltern herkamen: aus dem zaristischen und kommunistischen Rußland, aus dem Polen Pilsudskys und seinen Erben, aus Marokko, dem Irak, Iran und Syrien – zusätzlich zu denen, die im kolonialen Palästina unter der Herrschaft des britischen Hochkommissars geboren wurden. Wie die Neuerweckung der hebräischen Sprache, die in der Welt keine Parallele hat, so ist diese Demokratie ein Wunder. (Das heißt natürlich Demokratie nur im eigentlichen Israel. In den besetzten Gebieten herrscht eine völlig andere Situation.)

Ich glaube nicht, daß eine wirkliche Gefahr des Aufkommens von Faschismus besteht. Doch müssen wir jeden Tag und jede Stunde sehr auf der Hut sein. Für faschistische Tendenzen sind hier einige Faktoren gegeben: das Gefühl der Niederlage im Krieg, die „Dolchstoßlegende“ gegenüber der Armee, der Vertrauensverlust in das demokratische System, die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, die Hetze gegen die nationale Minderheit, die als Fünfte Kolonne beschrieben wird.

Das ist mehr als ein kleiner Nagel.





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