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Das große Experiment

Das Aushungern der Palästinenser

17.10.2006  


Uri Avnery
Übersetzung Ellen Rohlfs




Ist es möglich, ein ganzes Volk dahin zu bringen, sich einer fremden Besatzung zu unterwerfen, indem man es aushungert?

Das ist sicherlich eine interessante Frage. In der Tat so interessant, daß die Regierungen Israels und der Vereinigten Staaten – in enger Zusammenarbeit mit Europa – jetzt ein streng wissenschaftliches Experiment durchführen, um eine endgültige Antwort zu erhalten.

Das Laboratorium für das Experiment ist der Gaza-Streifen und die Versuchskaninchen sind die dort lebenden 1,3 Millionen Palästinenser.

Um die erforderlichen wissenschaftlichen Standards zu erreichen, war es zunächst nötig, das Laboratorium vorzubereiten.

Das wurde auf folgende Weise ausgeführt: Zunächst holte Ariel Sharon die israelischen Siedlungen, die dort feststeckten, heraus. Schließlich kann man ein ordnungsgemäßes Experiment nicht durchführen, wenn Haustiere im Laboratorium herumlaufen. Dies wurde mit "Entschlossenheit und Sensibilität" gemacht, Tränen liefen wie Wasser, die Soldaten küssten und umarmten die vertriebenen Siedler und wieder einmal wurde gezeigt, daß die israelische Armee die allerbeste der Welt ist.

Nachdem das Laboratorium gereinigt war, konnte die nächste Phase beginnen: alle Ein- und Ausgänge wurden hermetisch abgesperrt, um störende Einflüsse aus der Außenwelt auszuschalten. Das wurde ohne Schwierigkeiten erledigt. Aufeinanderfolgende israelische Regierungen haben den Bau eines Hafens in Gaza verhindert, und die israelische Flotte achtet darauf, daß sich kein Schiff der Küste nähert. Der prächtige internationale Flughafen, der während der Oslo-Periode gebaut wurde, wurde bombardiert und stillgelegt. Der ganze Streifen wurde durch einen hocheffektiven Zaun abgeriegelt und nur ein paar Übergänge blieben, alle bis auf einen kontrolliert von der israelischen Armee.

Es blieb eine einzige Verbindung mit der Außenwelt: der Rafah-Grenzübergang nach Ägypten. Der konnte nicht einfach abgeriegelt werden, weil dies Ägypten als Kollaborateur Israels entlarvt hätte. Eine raffinierte Lösung wurde gefunden: die israelische Armee verließ scheinbar den Übergang und übergab ihn einer internationalen Überwachungsgruppe. Seine Mitglieder sind nette Kerle, voll guter Absichten, aber in der Praxis sind sie vollkommen von der israelischen Armee abhängig, die den Übergang aus einem nahen Kontrollraum überwacht. Die internationalen Aufseher leben in einem israelischen Kibbuz und können den Übergang nur mit israelischem Einverständnis erreichen.

So war also alles für das Experiment bereit.

Das Signal für seinen Beginn wurde gegeben, nachdem doe Palästinenser einwandfreie demokratische Wahlen durchgeführt hatten, unter der Aufsicht des früheren Präsidenten Jimmy Carter. George Bush war begeistert: seine Vision, Demokratie in den Mittleren Osten zu bringen, erfüllte sich.

Aber die Palästinenser bestanden den Test nicht. Anstatt "gute Araber" zu wählen, die die USA anbeten, wählten sie sehr böse Araber, die Allah anbeten. Bush war beleidigt. Aber die israelische Regierung war begeistert: nach dem Hamas-Sieg waren die Amerikaner und Europäer bereit, an dem Experiment teilzunehmen. Es konnte anfangen.

Die Vereinigten Staaten und die Europäische Union erklärten die Einstellung aller Hilfsgelder an die palästinensische Behörde, da sie von "Terroristen kontrolliert" wird. Gleichzeitig sperrte die israelische Regierung den Geldfluß.

Um die Bedeutung hiervon zu verstehen: gemäß dem "Paris-Protokoll" (der wirtschaftliche Anhang des Oslo-Abkommens) ist die palästinensische Wirtschaft ein Teil des israelischen Zollsystems. Das heißt, daß Israel die Zölle für alle Waren einkassiert, die durch Israel laufen – tatsächlich gibt es keinen andere Route. Nach Abzug einer fetten Provision ist Israel verpflichtet, das Geld der Palästinensischen Behörde zu übergeben.

Wenn die israelische Regierung sich weigert, dieses Geld, das eigentlich den Palästinensern gehört, weiterzugeben, so ist das ganz einfach Diebstahl am hellichten Tag. Aber wenn man "Terroristen" beraubt, wer wird dagegen protestieren?

Die Palästinensische Behörde – sowohl in der West Bank als auch im Gaza-Streifen – braucht dieses Geld wie die Luft zum Atmen. Auch dies bedarf einer Erklärung: in den 19 Jahren unter jordanischer Besatzung der West Bank und der ägyptischen Besatzung im Gaza-Streifen, von 1948 bis 1967, wurde dort keine einzige wichtige Fabrik gebaut. Die Jordanier wollten jede wirtschaftliche Entwicklung innerhalb des eigentlichen Jordaniens, östlich des Flusses und die Ägypter vernachlässigten den Streifen vollkommen.

Dann kam die israelische Besatzung, und die Lage verschlimmerte sich sogar noch. Die besetzten Gebiete wurden der monopolistisch beherrschbare Absatzmarkt für die israelische Industrie und die Militärregierung verhinderte die Errichtung jedes Unternehmens, das möglicherweise mit einem israelischen konkurrieren könnte.

Die palästinensischen Arbeiter waren gezwungen, in Israel (nach israelischem Standard) für Hungerlöhne zu arbeiten. Von diesen zog die israelische Regierung wie bei israelischen Arbeitern noch alle Sozialabgaben ab – ohne daß die Palästinenser selbst in den Genuß jeglicher Sozialleistungen kamen. Auf diese Weise bestahl die Regierung die ausgebeuteten Arbeiter um weitere Dutzende von Milliarden Dollar, die irgendwo im bodenlosen Faß der Regierung verschwanden.

Als die Intifada ausbrach, entdeckten die israelischen Industrie- und Landwirtschaftsbosse, daß man auch ohne palästinensische Arbeiter auskommen könne. Tatsächlich war es sogar profitabler. Arbeiter aus Thailand, Rumänien und anderen armen Ländern waren bereit, für einen noch geringeren Lohn und unter Bedingungen, die an Sklaverei grenzen, zu arbeiten. Die Palästinenser verloren ihre Arbeitsplätze.

Das war die Situation zu Beginn des Experimentes: die palästinensische Infrastruktur zerstört, praktisch keine Produktionsmittel, keine Arbeit für die Arbeiter. Alles in allem ein idealer Ausgangspunkt für das große "Experiment Hunger".

Die Ausführung begann, wie erwähnt, mit der Einstellung der Zahlungen.

Der Grenzübergang zwischen dem Gaza-Streifen und Ägypten wurde praktisch geschlossen. Alle paar Tage oder Wochen wird er für ein paar Stunden geöffnet, um den Schein zu wahren, damit einige Kranke oder Sterbende nach Hause kommen oder ein ägyptisches Krankenhaus erreichen können.

Die Grenzübergänge zwischen dem Streifen und Israel wurden "aus dringenden Sicherheitsgründen" geschlossen. Im richtigen Augenblick kommt immer "die Warnung vor einem unmittelbar bevorstehenden Terroranschlag". Palästinensische Landwirtschaftsprodukte, die für den Export bestimmt sind, verfaulen am Übergang. Medikamente und Nahrungsmittel kommen nicht hinein, außer zuweilen für kurze Zeitabschnitte, auch um den Schein zu wahren, wenn eine wichtige Persönlichkeit aus dem Ausland protestiert. Dann kommt eine neue "dringende Sicherheitswarnung" und die Situation ist wieder wie gehabt.

Um das Bild abzurunden, bombardierte die israelische Luftwaffe das einzige Elektrizitätswerk im Gaza-Streifen, so daß es für einen großen Teil des Tages keinen Strom und kein Wasser gibt (da die Wasserpumpen vom Strom abhängen). Selbst an den heißesten Tagen mit Temperaturen von über 30 Grad Celsius im Schatten gibt es keinen Strom für Kühlschränke, Klimaanlagen, die Wasserversorgung und andere Bedürfnisse.

In der West Bank, einem Gebiet, das viel größer ist als der Gaza-Streifen (der nur 6 Prozent des besetzten palästinensischen Gebietes ausmacht, aber 40 Prozent seiner Bevölkerung beheimatet) ist die Situation nicht ganz so verzweifelt. Aber im Streifen lebt mehr als die Hälfte der Bevölkerung unterhalb der palästinensischen "Armutsgrenze", die natürlich viel, viel niedriger liegt als die israelische "Armutsgrenze". Viele Bewohner des Gaza-Streifens können nur davon träumen, in der nahen israelischen Stadt Sderot als arm zu gelten.

Was versuchen die Regierungen Israels und der USA den Palästinensern zu sagen? Die Botschaft ist klar: ihr kommt an den Rand des Hungers und sogar darüber hinaus, wenn ihr euch nicht ergebt. Ihr müßt die Hamas-Regierung entfernen und von Israel und den USA gebilligte Kandidaten wählen. Und, am wichtigsten, ihr müßt euch mit einem palästinensischen Staat zufriedengeben, der aus verschiedenen Enklaven besteht, die alle von der Gnade Israels abhängig sein werden.

Im Augenblick grübeln die Leiter des wissenschaftlichen Experimentes über einer komplizierten Frage: Wie um alles in der Welt halten die Palästinenser trotz allem noch durch? Nach allen Regeln hätten sie längst gebrochen sein müssen!

Tatsächlich gibt es einige ermutigende Zeichen. Die allgemeine Atmosphäre der Frustration und Verzweiflung schafft Spannungen zwischen der Hamas und Fatah. Hier und dort gab es schon Zusammenstöße, Menschen wurden getötet und verletzt, aber jedes Mal wurde der Verfall beendet, bevor er zu einem Bürgerkrieg wurde. Die tausenden von versteckten israelischen Kollaborateure helfen dabei, die Dinge anzuheizen. Aber im Gegensatz zu allen Erwartungen löste der Widerstand sich nicht auf. Nicht einmal der gefangene israelische Soldat ist freigelassen worden.

Eine der Erklärungen hat mit der Struktur der palästinensischen Gesellschaft zu tun. Die Hamulah (Großfamilie) spielt hier eine zentrale Rolle. Solange eine Person in der Familie arbeitet, verhungern auch die Verwandten nicht, auch wenn es eine weit verbreitete Unterernährung gibt. Jeder der irgendein Einkommen hat, teilt es mit all seinen Brüdern und Schwestern, Eltern, Großeltern, Cousins und deren Kindern. Das ist ein einfaches System, aber unter solchen Umständen ziemlich wirksam. Es scheint, daß die Planer des Experimentes damit nicht gerechnet haben.

Um den Prozeß zu beschleunigen, wurde in dieser Woche noch einmal die ganze Wucht der israelischen Armee eingesetzt. Drei Monate lang war die israelische Armee mit dem 2. Libanon-Krieg beschäftigt. Es wurde deutlich, dass die Armee, die während der letzten 39 Jahre hauptsächlich als Kolonialpolizei beschäftigt war, nicht sonderlich gut funktioniert, wenn sie plötzlich mit einem ausgelibedeten und bewaffneten Gegner konfrontiert ist, der zurückschlagen kann. Die Hizb Allah setzte tödliche Panzerabwehrwaffen gegen Panzertruppen an und Raketen regneten auf den Norden Israels. Die Armee hatte seit langem vergessen, wie man mit solch einem Feind fertig wird. Und der Feldzug endete nicht gut.

Jetzt kehrt die Armee zu dem Krieg zurück, den sie kennt. Die Palästinenser im Gaza-Streifen haben (noch) keine effektiven Panzerabwehrwaffen und die Qassams verursachen nur begrenzten Schaden. Die Armee kann wieder ungehindert Panzer gegen die Bevölkerung anwenden. Die Luftwaffe, die sich im Libanon fürchtete, Hubschrauber zur Evakuierung der Verwundeten zu schicken, kann nun wieder nach Lust und Laune Raketen auf die Häuser "gesuchter Personen", ihrer Familien und ihrer Nachbarn abfeuern. Wenn in den letzten drei Monaten wurden "nur" 100 Palästinenser pro Monat getötet wurden, so sind wir jetzt Zeugen eines dramatischen Anstiegs der Zahl von getöteten und verletzten Palästinensern.

Wie kann eine vom Hunger geplagte Bevölkerung, der Medikamente und Ausrüstung für ihre einfachen Krankenhäuser fehlen und die Angriffen vom Land, der See und aus der Luft ausgesetzt ist, durchhalten? Wird sie zusammenbrechen? Wird sie auf die Knie gehen und um Gnade bitten? Oder wird sie eine übermenschliche Kraft finden und die Prüfung bestehen?

Kurz gesagt: Was und wieviel ist nötig, um eine Bevölkerung dazu zu bringen, sich zu ergeben?

Alle, an dem Experiment teilnehmenden Wissenchaftler – Ehud Olmert und Condoleezza Rice, Amir Peretz und Angela Merkel, Dan Halutz und George Bush, vom Friedensnobelpreisträger Shimon Peres ganz zu schweigen – sind alle über Mikroskope gebeugt und warten auf eine Antwort, die zweifellos ein wichtiger Beitrag für die politischen Wissenschaften sein wird.

Ich hoffe, das Nobelpreis-Komitee beachtet dies auch.





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