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Ohne Grenzen

Kein Frieden zwischen Israel und Palästina ohne Grenze

30.03.2007  


Uri Avnery
Übersetzung Ellen Rohlfs




Unglaublich! In den palästinensischen Schulbüchern gibt es keine Spur der Grünen Linie! Sie erkennen die Existenz Israels nicht einmal in den Grenzen von 1967 an! Sie sagen, "zionistische Banden" hätten das Land von den Arabern gestohlen! So vergiften sie den Verstand ihrer Kinder!

Diese entsetzlichen Enthüllungen wurden in dieser Woche in Israel und rund um die Welt veröffentlicht. Die Schlußfolgerung ist offensichtlich: die palästinensische Behörde, die für die Schulbücher verantwortlich ist, kann kein Partner bei Friedensverhandlungen sein.

Welch ein Schock!

Die Wahrheit ist, daß nichts daran neu ist. Alle paar Jahre, wenn all die anderen Ausreden für die Weigerung, mit der palästinensischen Führung zu sprechen, abgenutzt sind, taucht es als letztes Argument wieder auf: palästinensische Schulbücher rufen zur Zerstörung Israels auf!

Die Munition wird immer von einer der „professionellen“ Einrichtungen geliefert, die sich mit dieser Sache beschäftigen. Es sind Stiftungen der extremen Rechten, als "wissenschaftliche" Gremien getarnt, die großzügig von jüdisch-amerikanischen Multi-Millionären finanziert werden. Arbeitsgruppen von Angestellten durchkämmen jeden Text, jedes Wort arabischer Medien und Schulbücher mit einem vorherbestimmten Ziel: zu beweisen, daß sie antisemitisch sind, Haß gegen Israel predigen und zum Mord an Juden aufrufen. Im Meer der Wörter ist es nicht allzu schwierig, passende Zitate zu finden – und alles andere zu ignorieren.

Es ist also wieder einmal völlig klar: palästinensische Schulbücher predigen Haß gegen Israel! Sie ziehen eine neue Generation von Terroristen heran! Deshalb ist es für Israel und die Welt absolut unmöglich, die Blockade gegenüber der Palästinensischen Behörde aufzuheben.

Nun, was ist mit unserer Seite? Wie sehen denn unsere Schulbücher aus?

Erscheint denn die Grüne Linie in ihnen? Erkennen sie das Recht der Palästinenser an, auf der anderen Seite der Grenze von 1967 einen Staat zu errichten? Lehren sie Nächstenliebe für das palästinensische Volk (oder auch nur die Anerkennung des palästinensischen Volkes) oder Respekt für die Araber im allgemeinen oder Grundkenntnisse des Islams?

Die Antwort auf all diese Fragen: Absolut nicht!

Vor kurzem platzte die Bildungsministerin Yuili Tamir mit einer bombastischen Ankündigung heraus: sie beabsichtige, die Grüne Linie wieder in die Schulbücher eintragen zu lassen, aus denen sie vor fast 40 Jahren entfernt worden war. Die Rechte reagierte wütend und danach hörte man nichts mehr davon.

Vom Kindergarten bis zum letzten Schultag lernen die israelischen Schüler nicht, daß die Araber irgendein Recht auf irgendeinen Teil dieses Landes haben. Im Gegenteil, es ist klar, daß das Land uns allein gehört, daß Gott es uns persönlich gegeben hat, daß wir tatsächlich von den Römern nach der Zerstörung des Tempels im Jahre 70 vertrieben worden sind (ein Mythos), daß wir aber mit Beginn der zionistischen Bewegung zurückgekehrt seien. Seitdem haben die Araber immer wieder versucht, uns zu vernichten, so wie es die Goyim in jeder Generation getan haben. 1936 haben uns die "Banden" (die offizielle israelische Bezeichnung für die Kämpfer des arabischen Aufstandes) angegriffen und ermordet. Und so ging es weiter bis zum heutigen Tag.

Wenn der jüdisch-israelische Schüler aus der pädagogischen Mühle entlassen wird, "weiß" er, daß die Araber ein primitives Volk mit einer mörderischen Religion und einer erbärmlichen Kultur sind. Er nimmt diese Ansichten mit sich, wenn er – oder sie - ein paar Wochen später zur Armee geht. Dort wird dies fast automatisch bestätigt. Die tägliche Demütigung von alten Menschen und Frauen - ganz zu schweigen von all den anderen - an den Kontrollpunkten wäre sonst nicht denkbar.

Die Frage ist natürlich, ob Schulbücher wirklich solch großen Einfluss auf die Schüler haben.

Kinder nehmen von frühester Kindheit ihre Umgebung auf. Die Gespräche zu Hause, was sie im Fernsehen sehen, was sich auf der Straße ereignet, die Meinungen der Klassenkameraden in der Schule – all dies beeinflußt sie viel mehr als die geschriebenen Texte in den Schulbüchern, die vom Lehrer interpretiert werden, die selbst diesen Einflüssen ausgesetzt waren.

Ein arabisches Kind sieht im Fernsehen, wie eine alte Frau über die Zerstörung ihres Hauses jammert. Es sieht an den Hauswänden die Photos der heroischen Märtyrer, Söhne des Stadtviertels, die ihr Leben für ihr Volk und ihr Land geopfert haben. Es hört, was mit seinem Cousin geschehen ist, der von den bösen Juden ermordet wurde. Er hört von seinem Vater, daß er kein Fleisch und keine Eier kaufen kann, weil die Juden ihm nicht erlauben, zu arbeiten und Essen auf den Tisch zu bringen. Zuhause gibt es die meiste Zeit des Tages kein Wasser. Mutter erzählt von Großvater und Großmutter, die 60 Jahren in einem elenden Flüchtlingslager im Libanon geschmachtet haben. Es weiß, daß seine Familie aus ihrem Dorf vertrieben wurde, das heute zu Israel gehört und wo heute Juden leben. Der Held seiner Klasse ist ein Junge, der auf einen vorbeifahrenden israelischen Panzer sprang oder der es wagte, aus einer Entfernung von 10 Metern einen Stein auf einen Soldaten zu werfen, der mit einem Gewehr auf ihn zielte.

Wir fuhren einmal zu einem palästinensischen Dorf, um den Einwohnern beim Wiederaufbau eines Hauses zu helfen, das tags zuvor vom Militär zerstört worden war. Während die Erwachsenen daran waren, das Dach fertig zu stellen, sammelten sich die Dorfkinder um Rachel, meine Frau, und zeigten großes Interesse an ihrem Photoapparat. Ein Gespräch entwickelte sich zwischen ihnen: "Woher kommst du? Aus Amerika?" "Nein, von hier" "Seid ihr Messihiin (Christen)?" "Nein, Israelis" "Israelis?" (Allgemeines Gelächter) "Israelis machen bumm, bumm bumm!" (Sie nehmen Haltungen schießender Soldaten ein.) "Nein, wirklich, woher kommt ihr?" "Aus Israel, wir sind Juden." (Sie wechseln fragende Blicke untereinander.) "Warum kommt ihr hierher?" "Um bei der Arbeit zu helfen." (Flüstern und Gelächter.) Einer der Jungen läuft zu seinem Vater: "Diese Frau sagt, sie seien Juden." "Stimmt", bestätigt der in Verlegenheit gebrachte Vater, "Juden, aber gute Juden". Die Kinder ziehen sich zurück. Sie schauen wenig überzeugt aus.

Was können Schulbücher hier schon verändern?

Und auf der jüdisch-israelischen Seite? Schon im frühesten Alter sieht ein Kind im Fernsehen Bilder von Selbstmordanschlägen, von zerfetzten Körpern, die Verletzten werden in Krankenwagen weggebracht, deren Sirenen einem das Blut gefrieren lassen. Es hört, daß die Nazis Mutters ganze Familie in Polen umgebracht haben und in seinem Bewußtsein verschmelzen Nazis mit Arabern. Jeden Tag hört es in den Nachrichten von den schlimmen Dingen, die die Araber tun, daß sie den Staat zerstören und uns ins Meer werfen wollen. Es weiß, daß die Araber seinen Bruder, den Soldaten, völlig ohne Grund umbringen wollen, nur weil sie eben solche Mörder sind. Nichts erfährt es über das Leben in den „Gebieten“, die vielleicht nur wenige Kilometer weit entfernt sind. Bis es zum Militär einberufen wird, sind die einzigen Araber, die es trifft, israelische Araber, die niedrige Arbeiten verrichten. Wenn er zur Armee kommt, sieht er sie nur durch das Zielfernrohr seines Gewehrs, jeder von ihnen ist dann ein potentieller "Terrorist".

Damit eine Veränderung in den Schulbüchern Sinn hat, muß sich zuerst die Realität vor Ort verändern.

Heißt das, daß Schulbücher keine Bedeutung haben? Sie sollten nicht unterschätzt werden.

Ich erinnere mich, daß ich einmal in den späten 60ern in einem Kibbuz einen Vortrag hielt. Nachdem ich über die Notwendigkeit der Errichtung eines palästinensischen Staates an der Seite Israels sprach (damals eine ziemlich revolutionäre Idee), stand einer der Kibbuzbewohner auf und fragte. "Ich verstehe das nicht! Sie wollen, daß wir all die Gebiete, die wir erobert haben, zurückgeben. Die Gebiete sind etwas reales, Land, Wasser. Was bekommen wir dafür? Abstraktes wie 'Frieden'? Was bekommen wir - tacheles?" (Tacheles ist jiddisch für etwas Handfestes.)

Ich antwortete, daß es zehntausende von Klassenzimmern zwischen Marokko und dem Irak gibt und in jedem hängt eine Landkarte. Auf all diesen Landkarten steht anstelle von Israel "besetztes Palästina" oder es wurde einfach leer gelassen. Alles, was wir brauchen, ist, daß der Name Israel auf all diesen tausenden von Landkarten auftaucht.

Seitdem sind 40 Jahre vergangen, und der Name "Israel" erscheint nicht in den palästinensischen Schulbüchern und vermutlich auch nicht auf den Landkarten von Marokko bis zum Irak. Und der Name "Palästina" erscheint natürlich auf keiner israelischen Schulkarte. Erst wenn der junge Israeli in die Armee kommt, sieht er eine Karte mit den "Gebieten" mit dem verrückten Wirrwarr der Zonen A, B und C, den Siedlungsblöcken und den Apartheidstraßen.

Eine Landkarte ist eine Waffe. Aus meiner Kindheit in Deutschland zwischen den beiden Weltkriegen erinnere ich mich an eine Landkarte, die an der Wand meines Klassenzimmers hing. Auf dieser hatte Deutschland zwei Grenzen. Die eine (grün, wenn ich mich recht erinnere) war die bestehende Grenze, die nach dem Versailler Vertrag nach dem 1. Weltkrieg aufgezwungen wurde. Die andere, in leuchtendem rot, war die Grenze, die vor dem Krieg gültig war. In tausenden von Klassenzimmern überall in Deutschland (damals von den Sozialdemokraten regiert) sahen die Schüler täglich, welch schreckliches Unrecht man Deutschland angetan hatte, als man ihm von jeder Seite Stücke weggerissen hatte. So wurde die Generation herangezogen, die dann die Reihen der Nazis für die Kriegsmaschinerie des 2. Weltkrieges gefüllt hat.

(Nebenbei gesagt: etwa 50 Jahre später durfte ich freundlicherweise diese Schule besuchen. Ich fragte den Schulleiter nach dieser Karte. Nach wenigen Minuten wurde sie aus dem Archiv gebracht.)

Nein, ich nehme Landkarten nicht auf die leichte Schulter. Ganz besonders keine Landkarten in Schulen.

Ich wiederhole, was ich damals sagte: es muß das Ziel sein, daß das Kind in Ram Allah vor seinen Augen eine Landkarte an der Wand seines Klassenzimmers sieht, auf der der Staat Israel eingezeichnet ist. Und daß das Kind in Rishon-le-Zion vor seinen Augen eine Landkarte an der Wand seines Klassenzimmers sieht, auf der der Staat Palästina eingezeichnet ist. Nicht durch Zwang, sondern durch ein Abkommen.

Das ist natürlich unmöglich, solange Israel keine Grenzen hat. Wie kann man auf eine Karte einen Staat einzeichnen, der sich vom ersten Tage an bewußt und unnachgiebig weigerte, seine Grenzen zu definieren. Können wir wirklich vom palästinensischen Ministerium für Bildung und Erziehung erwarten, daß es eine Karte veröffentlicht, in dem alle Gebiete Palästinas innerhalb Israels liegen?

Und auf der anderen Seite: wie kann man auf einer Landkarte "Palästina" markieren, wenn es keinen palästinensischen Staat gibt? Sogar die meisten jener Politiker, die sich - wenigstens pro forma - zu einer "Zwei-Staatenlösung" bekennen, vermeiden um jeden Preis klar zu sagen, wo denn die Grenze zwischen den beiden Staaten verlaufen soll. Tzipi Livni, die Außenministerin, ist absolut gegen die angekündigte Absicht ihrer Kollegin, der Bildungsministerin Yuli Tamir, die Grüne Linie zu markieren, damit sie nicht als Grenze angesehen wird.

Frieden bedeutet eine Grenze. Eine durch ein Abkommen festgelegte Grenze. Ohne eine Grenze kann es keinen Frieden geben. Und ohne Frieden ist es eine Chutzpa (Frechheit), von der anderen Seite etwas zu verlangen, das wir selbst absolut zu tun verweigern.





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