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Habt ihr vergessen?
07.09.2003


Riverbend

http://riverbendblog.blogspot.com/







Der 11. September war eine Tragödie. Nicht, weil 3.000 Amerikaner gestorben sind... sondern weil 3.000 Menschen gestorben sind. Ich habe über die aufgezeichneten Telephongespräche von Opfern und ihren Familien vom 11. September gelesen. Mein Gedanke war, daß es... schrecklich und zeitlich perfekt abgepasst war. Gerade, wenn Leute beginnen, die Ergebnisse und die Motivationen hinter dieser Besatzung zu hinterfragen, werden sie sofort mit den Erinnerungen an den 11. September bombardiert. Egal, daß der Irak nichts damit zu tun hatte.

Ich bekomme laufend Emails, die mich an die Tragödie vom 11. September erinnern und mir sagen, daß die "Araber" sich all das selbst zuzuschreiben haben. Egal, daß man anfangs Afghanistan die Schuld gab (die, nur zur Information, keine Araber sind).

Ich werde laufend an die 3.000 Amerikaner erinnert, die an jenem Tag starben... und aufgefordert, die 8.000 wertlosen Iraker zu vergessen, die wir durch Raketen, Panzer und Gewehre verloren haben.

Die Leute wundern sich, daß wir nicht auf den Straßen sind und die monströsen khakifarbenen Panzer mit Rosen und Jasmin bedecken. Sie fragen sich, warum wir nicht die harten, ekligen Helme der Soldaten mit Lorbeerkränzen krönen. Sie fragen, warum wir um unsere Toten trauern statt sie dankbar als Opfer für die Götter der Demokratie und der Freiheit darzubringen. Sie wundern sich, warum wir verbittert sind.

Aber ich habe *nicht* vergessen.

Ich erinnere mich an den 13. Februar 1991. Ich erinnere mich an die Raketen, die in den Al-Amriyah-Luftschutzbunker einschlugen - einen zivilen Luftschutzbunker in einer bevölkerten Wohngegend von Baghdad. Bomben so hochentwickelt, daß die erste sich bis zum Herz des Bunkers hindurchbohrte und die zweite innen explodierte. Der Bunker war voller Frauen und Kinder - Jungen über 15 Jahren waren nicht zugelassen. Ich erinnere mich, Bilder von entsetzten Leuten zu sehen, die an dem Zaun, der den Bunker umringte, hingen und weinten, schrieb und bettelten um zu erfahren, was mit einer Tochter, einer Mutter einem Sohn, einer Familie passiert war, die innerhalb des Bunkers Schutz gesucht hatten.

Ich erinnere mich, wie sie Körper herausbrachten, die so verbrannt waren, daß man nicht sagen konnte, daß es Menschen waren. Ich erinnere mich an rasende Menschen, die von Leiche zu Leiche liefen und versuchten, einen geliebten Menschen zu identifizieren... Ich erinnere mich an irakische Helfer, die den Bunker säuberten und angesichts der unerträglichen Szenen im Innern ohnmächtig wurden. Ich erinnere mich, daß die ganze Gegend wochenland danach nach verbranntem Fleisch stank.

Ich erinnere mich, wie ich den Bunker Jahre später besuchte, um den über 400 Menschen, die hier in den frühen Morgenstunden eines schrecklichen Todes gestorben waren meinen Respekt zu erweisen und daß ich die schemenhaften Umrisse von Menschen an den Wänden und der Decke sah.

Ich erinnere mich an einen Freund der Familie, der seine Frau, seine fünf Jahre alte Tochter, seinen zwei Jahre alten Sohn und seinen Verstand am 13. Februar verlor.

Ich erinnere mich an den Tag, als das Pentagon, nach diversen Ausflüchten, zugab, daß es einen "Fehler" begangen hatte.

Ich erinnere mich an 13 Jahre Sanktionen, vehement unterstützt durch die USA und Großbritannien und im Namen von Massenvernichtungswaffen, die nie gefunden wurden. Sanktionen so streng, daß grundlegende Bedürfnisse wie Medikamente monatelang auf einer Warteliste standen bevor sie schließlich abgelehnt wurden. Ich erinnere mich daran daß Chemikalien wie Chlor, notwendig für die Wasseraufbereitung, auf Kosten von Millionen von Menschen eingehend geprüft und verzögert wurden.

Ich erinnere mich, Mitarbeiter von Hilfsorganisationen und uns besuchende Aktivisten bitten zu müssen "ein Buch mitzubringen" weil Verlagsgesellschaften es ablehnten wissenschaftliche Bücher und Zeitschriften an den Irak zu verkaufen. Ich erinnere mich, Bücher mit anderen Studenten an der Oberschule "teilen" zu müssen, um so zu versuchen, das Beste aus den begrenzten Möglichkeiten zu machen.

Ich erinnere mich an zerstörte kleine Körper in riesigen Krankenhausbetten - sterbend an Hunger und Krankheiten; Krankheiten, die leicht mit Medikamenten, die "verboten" waren hätten geheilt werden können. Ich erinnere mich an Eltern mit angespannten Gesichtern, die dem Arzt ägnstlich in die Augen blickten und auf ein Wunder hofften.

Ich erinnere mich an das abrereicherte Uran. Wie viele haben von abgereichertem Uran gehört? Das sind ganz normale Worte für die irakischen Menschen. Die Waffen mit abgereichertem Uran, die 1991 benutzt wurden (und auch dieses Mal wieder) haben zu einer geschädigten Umwelt und einer astronomischen Steigerung bei der Zahl der Krebsfälle im Irak geführt. Ich erinnere mich an Babies, die mit nur einem Auge, drei Beinen oder keinem Gesicht geboren wurden - eine Folge des Urans.

Ich erinnere mich an dutzende Tote in den "Flugverbotszonen", bombardiert von britischen und amerikanischen Flugzeugen unter der Behauptung, den Norden und den Süden des Iraks zu "schützen". Ich erinnere mich an die Mutter, die in den Außenbezirken von Mosul lebte, die ihren geliebten Mann und fünf Kinder verlor, als ein amerikanisches Flugzeug den Vater und seine Söhne inmitten eines Feldes von friedlichen, grasenden Schafen bombardierte.

Und wir sollen glauben, daß all das zum Wohle der Menschen getan wird.

"Habt ihr vergessen, wie es war
Das Heimatland unter Feuer zu sehen
Und seine Menschen weggepustet?"

Nein... wir haben es nicht vergessen - die Panzer sind immer noch hier um uns zu erinnern.

Ein Freund von E., der in Amiriyah wohnt, erzählte uns von einem amerikanischen Soldaten, mit dem er in der Gegend gesprochen hatte. E's Freund zeigte auf den Bunker und erzählte ihm von der 1991 begangenen Greueltat. Der Soldat drehte sich mit den Worten weg "Gib nicht mir die Schuld - Ich war erst 9!" Und ich war erst 11.

Das amerikanische Langzeitgedächtnis ist nur für amerikanische Traumata reserviert. Der Rest der Welt sollte "es einfach hinter sich lassen", "vorwärts gehen", "pragmatisch sein" und "darüber hinwegkommen".

Jemand hat mich gefragt, ob es wahr ist, daß "die irakischen Menschen in den Straßen von Baghdad getanzt haben" als das World Trade Center einstürzte. Natürlich ist das nicht wahr. Ich sah ungläubig auf den Fernseher - sah die Reaktion der entsetzten Menschen. Ich tanzte nicht, weil die entsetzten Gesichter im Fernseher die gleichen wie vor dem Amiriyah Bunker am 13. Februar hätten sein können... es ist eigenartig, wie der Horror Rassenunterschiede wegwischt - alle Gesichter sehen gleich aus, wenn sie den Tod von geliebten Menschen mitansehen.


Riverbend ist nach eigener Aussage eine irakische Bloggerin.




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